Entscheidung des Monats Juni 2024

Verwaltungsrecht - "Aufhebung von Verwaltungsakten im Kontext des Berufsrechts"

Hinweis vom HLB-Team: „In Jura lernst Du was fürs Leben, Kind“. Vielleicht kommen diese oder ähnliche Floskeln dem ein oder anderen Studierenden der Rechtswissenschaften bekannt vor? Jene, die sich von Familienmitgliedern anhören mussten, begannen wohl frühestens an diesen Worten zu zweifeln, als sie im tiefsten Staatsorganisationsrecht die Verfassungsmäßigkeit eines Untersuchungsausschuss-Einsetzungsbeschlusses durch den Bundestag prüfen mussten.

Doch hin und wieder gibt es diese lichten Momente in einem jeden Jura-Studium, in denen es „Klick“ macht. Mag es das Aufatmen sein, wenn man im Strafrecht erfährt, dass es eine fahrlässige Sachbeschädigung (außerhalb der Brandstiftungsdelikte) nicht gibt. Mag es im Zivilrecht die Kenntnis der Verbraucher- (und Studi-) freundlichen Widerrufsvorschriften des BGB sein. Auch das Öffentliche Recht bietet derlei Glücksmomente. Jene Momente, in denen man den Bafög- oder Wohngeld-Rückforderungs-Bescheid anblickt und realisiert: „Moment mal, das ist ja ein begünstigender Verwaltungsakt!“. Wenn es also ein Fach gibt, welches Lektionen fürs Leben bietet, so ist es wohl das Verwaltungsrecht. Der richtige und rechtmäßige Umgang mit Verwaltungsakten wird den Blick auf Briefpost vom Staat auf ewig verändern (Stichwort: Bestandskraft).

Dieser Erkenntnis – sowie einer wie üblich überdurchschnittlichen Examensrelevanz – Rechnung tragend, handelt unsere Entscheidung des Monats Juni von der Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsakts, namentlich der Erlaubnis der Führung der Berufsbezeichnung „Physiotherapeut“. Insbesondere beschäftigt sich dabei das Oberverwaltungsgericht Bremen (OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23) mit den Anforderungen an die Prognoseentscheidung im Zuge einer Untersagung infolge „Unzuverlässigkeit“. Der Begriff der Unzuverlässigkeit sowie die Rücknahme und der Widerruf von Verwaltungsakten sind absolutes Grund-Handwerkszeug eines jeden angehenden Jura-Studierenden. In verschiedenem Gewand gekleidet, begegnen sie dem Rechtsanwender in reger Stetigkeit (vgl. § 45 WaffenG, § 15 GastG, § 35 GewO, etc.).

Aus diesem Grund beschäftigt sich der dogmatische Vertiefungsteil diesmal mit den §§ 48 ff. VwVfG und deren gelungener Handhabe in der ÖR-Klausur. Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre!

 

Die Hintergründe der Entscheidung

Nach den Feststellungen des OVG Bremen[1] war der Kläger seit dem Jahr 1994 als Physiotherapeut tätig. Im Frühjahr 2016 erteilte ihm die beklagte Behörde die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung „Physiotherapeut“. Im Januar 2017 machte er sich mit einer eigenen Praxis selbstständig.[2]

Rund anderthalb Jahre später, im August 2018, erhob die Staatsanwaltschaft Bremen Anklage gegen den Kläger wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung des Beratungs- und Behandlungsverhältnisses. Der Anklage lagen die Strafanträge zweier Patientinnen des Klägers aus September 2017 zugrunde. Die Staatsanwaltschaft informierte die Beklagte über die Anklageerhebung. [3]

Die Beklagte zog die Strafakten bei und hörte den Kläger an. Mit Bescheid vom 18.02.2019 widerrief sie die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung „Physiotherapeut“. Sie ordnete die Rückgabe der Erlaubnis sowie die sofortige Vollziehung des Widerrufs an. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger besitze nicht mehr die nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 MPhG für die Berufsausübung notwendige Zuverlässigkeit. Sie verwies auf die Strafakten: Der Kläger habe sexuelle Handlungen an Personen vorgenommen, die ihm wegen einer körperlichen Erkrankung zur Beratung und Behandlung anvertraut gewesen seien. Es bestehe eine erhöhte Gefahr weiterer sexueller Übergriffe, weil der Kläger im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit zwangsläufig in Körperkontakt mit anderen Menschen käme. Der Widerruf der Erlaubnis sei erforderlich, um im öffentlichen Interesse eine körperliche und seelische Gefährdung künftiger Patientinnen zu verhindern. Auch wenn der Kläger durch den Widerruf einen finanziellen Schaden erleide und in seinem beruflichen Ansehen geschädigt werde, müssten seine Individualinteressen gegenüber dem öffentlichen Interesse zurückstehen.[4]

Im April 2019 verurteilte das Amtsgerichts den Kläger wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Beratung-, Behandlungs- und Betrauungsverhältnisses in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten zur Bewährung. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hin, hob das Landgericht im August 2020 den Rechtsfolgenausspruch auf und verurteilte den Kläger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung. Keines der beiden Strafgerichte ordnete ein Berufsverbot (§ 70 StGB) an.[5]

Der Kläger meint, er sei nicht als unzuverlässig anzusehen. Ihm seien stets hervorragende Leistungen attestiert worden. Die betroffenen Frauen hätten ihm keine Gewalt oder die Ausnutzung einer Zwangslage vorgeworfen. Sie hätten selbst geschildert, Handlungen vorgenommen zu haben, die gegebenenfalls hätten missverstanden werden können. Zudem meint der Kläger, der Widerruf sei unverhältnismäßig. Es hätten Auflagen als mildere Mittel zur Verfügung gestanden, z.B. die Beschränkung der Berufsausübung auf männliche Patienten oder die Behandlung in ständiger Anwesenheit eines Dritten. Der Eingriff in seine berufliche Existenz sei besonders schwerwiegend. Zudem hätte die Behörde berücksichtigen müssen, dass die Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt und kein Berufsverbot angeordnet worden sei. Insoweit sei eine Bindungswirkung eingetreten.[6]

Mit Urteil vom 20.05.2021 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen.

Die Entscheidung

Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Der Widerruf der Erlaubnis zur Führung der Berufungsbezeichnung „Physiotherapeut“ ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.[7]

I. Ermächtigungsgrundlage

Ermächtigungsgrundlage („EGL“) für den Widerruf der Erlaubnis ist § 49 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BremVwVfG iVm. § 2 Abs. 1 Nr. 2 MPhG.[8]

Die Widerrufsermächtigung gem. § 49 VwVfG Bremen ist deckungsgleich zu der Regelung im VwVfG Bund. Nach § 49 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 VwVfG kann ein rechtmäßiger, begünstigender Verwaltungsakt („VA“) widerrufen werden, wenn die Behörde aufgrund nachträglicher Tatsachen berechtigt gewesen wäre, den VA nicht zu erlassen, und wenn ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet werden.

Das Gesetz über die Berufe in der Physiotherapie (MPhG) regelt in § 2 die Voraussetzungen für die Erteilung der Erlaubnis zur Führung der Berufungsbezeichnung. Dazu gehört, dass sich der Antragssteller keines Verhaltens schuldig gemacht haben darf, aus dem sich die Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufes ergibt, § 2 Abs. 1 Nr. 2 MPhG.

Hinweis

Die Aufhebung von Verwaltungsakten ist häufig im lex specialis geregelt, darunter z.B. § 15 GastG, § 45 WaffenG oder § 14 BRAO. Wenn es eine spezielle EGL gibt, ist der Widerruf nur unter den dort geregelten Voraussetzungen möglich. Der Rückgriff auf die allgemeinen Regeln des VwVfG ist dann gesperrt (lex specialis derogat legi generali).

Auch das OVG stellt einführend fest, dass es keine spezielle Eingriffsermächtigung gibt.[9]

II. Formelle Rechtmäßigkeit

Die formelle Rechtmäßigkeit des Widerrufs wird vom OVG nicht thematisiert. Hier wären zu prüfen: (1.) die Zuständigkeit der aufhebenden Behörde (vgl. § 48 Abs. 5 i.V.m. § 3 VwVfG), (2.) verfahrensrechtlich die Anhörung des Klägers (vgl. § 28 Abs. 1 VwVfG) sowie (3.) die Beachtung der Formvorschriften (vgl. § 37 VwVfG).

III. Materielle Rechtmäßigkeit

Die Voraussetzungen für den Widerruf der Erlaubnis liegen vor und die Behörde hat das ihr eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt.[10]

1. Tatbestand

Die Beklagte wäre aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt gewesen, dem Kläger die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung „Physiotherapeut“ zu versagen. Ohne den Widerruf wäre das öffentliche Interesse gefährdet.[11]

a) Unzuverlässigkeit

#Definition Berufliche Unzuverlässigkeit

Ein Berufsausübender ist unzuverlässig, „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass er keine Gewähr für eine künftig ordnungsgemäße Berufsausübung bietet. Nicht ordnungsgemäß ist die Berufsausübung durch eine Person, die nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Einhaltung der Vorschriften und Pflichten, die ihr Beruf mit sich bringt, zu gewährleisten.“[12]

„Bei der Unzuverlässigkeit handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der gerichtlich voll überprüfbar ist. Für die i.R.d. Widerrufs einer Berufserlaubnis geforderte Prognose zur Beurteilung der Zu- bzw. Unzuverlässigkeit ist entscheidend, ob der Betroffene willens und in der Lage ist, künftig seine beruflichen Pflichten zuverlässig zu erfüllen. Maßgeblich ist der jeweilige Gesamteindruck des Verhaltens des Betroffenen im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung sowie sein vor allem durch die Art, die Schwere und die Zahl der Verstöße gegen die Berufspflichten manifest gewordener Charakter. Dabei sind die gesamte Persönlichkeit des Erlaubnisinhabers und seine Lebensumstände zu würdigen.“ [13]

Die Prüfung der Unzuverlässigkeit ist der Schwerpunkt des Urteils (und vieler Examensklausuren). Es waren drei Fragen zu klären:

  • Wieso kommt es auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung an?
  • Gab es bereits zu diesem Zeitpunkt – vor dem Strafurteil – eine hinreichende Tatsachengrundlage, um eine Prognose hinsichtlich der Zuverlässigkeit zu treffen?
  • Steht es einer Negativprognose entgegen, dass die Strafgerichte die Freiheitstrafe zur Bewährung ausgesetzt und von einem Berufsverbot abgesehen haben?

aa) Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt

Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Widerrufs einer Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung „Physiotherapeut“ ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens.[14]

Hinweis

Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren kommt es grundsätzlich auf die Rechtmäßigkeit zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung an.[15] Eine Ausnahme gilt für Dauerverwaltungsakte: hier ist der Zeitpunkt der letzten tatgerichtlichen Entscheidung maßgeblich.[16] Eine Rückausnahme stellen jene gesetzgeberischen Anordnungen dar, wie sie z.B. die Gewerbeuntersagung gem. § 35 Abs. 1 GewO (vgl. Abs. 6 S.2 ebd.) normiert. Eine gesetzliche Sperrzeit muss hier i.d.R. durch ein gesetzliches Wiedergestattungverfahren, z.B. nach § 35 Abs. 6 S. 1 GewO erreicht werden[17], sodass neue Tatsachen nur dort berücksichtigt werden können.

Das Berufsrecht der Physiotherapeuten sieht kein eigenständiges Wiedererteilungsverfahren vor. Ein solches Verfahren ergebe sich aber aus dem Umstand, dass bei Wiedervorliegen der Voraussetzungen ein Anspruch auf erneute Zuerkennung der Erlaubnis bestehe, so das OVG. Deswegen bewirke der Abschluss des behördlichen Widerrufverfahrens eine Zäsur: Alle Umstände, die nach dem Widerruf eintreten, seien erst bei der Wiedererteilung zu berücksichtigen.[18]

Der Begriff der Sachlage meint die tatsächlichen Umstände, die vom Gericht daraufhin überprüft werden, ob sie den Tatbestand eines Gesetzes erfüllen. Das Oberverwaltungsgericht erklärt, dass nachträglich bekannt gewordene Erkenntnisse vom Tatgericht berücksichtigt werden müssten, um zu beurteilen, ob die Umstände im maßgeblichen Zeitpunkt vorgelegen haben. Nachträgliche Erkenntnisse über vergangene Umstände seien keine neuen Tatsachen, sondern dienten der Klärung von vergangenen Tatsachen.[19]

bb) Prognoseentscheidung

Der Kläger war im Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens als unzuverlässig i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 2 MPhG anzusehen.[20]

Zum Zeitpunkt des Erlaubniswiderrufs lagen hinreichende Erkenntnisse vor, dass der Kläger wesentliche Berufspflichten eines Physiotherapeuten in solch gravierender Weise verletzt hat, dass dies im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbescheids am 18.02.2019 die Prognose rechtfertigte, er werde künftig seine beruflichen Pflichten nicht zuverlässig erfüllen. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen war, ist es den Verwaltungsgerichten nicht verwehrt, die Ermittlungsergebnisse der Strafverfolgungsorgane einer eigenständigen Bewertung zu unterziehen und auf dieser Grundlage eine Zuverlässigkeitsprognose zu treffen. [21]

Aufgrund der Erkenntnisse, die in dem strafgerichtlichen Verfahren gewonnen werden konnten, geht der Senat davon aus, dass das Verhalten des Klägers erwiesen ist. Zur Begründung nimmt der Senat eine umfassende eigene Würdigung der Zeugenaussagen der beiden Patientinnen vor. Überzeugungsbildend war zunächst, dass die beiden Zeuginnen einander nicht kannten und die sexuellen Übergriffe unabhängig voneinander zur Anklage gebracht hätten. Ihre Aussagen seien zusammenhängend, detailliert, glaubhaft und weisen keine Widersprüche oder Steigerungen auf. Vor Gericht hätten beide Zeuginnen ihre zunächst vor der Polizei getätigten Aussagen bestätigt. Sie hätten Nachfragen des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten zum Sachverhalt schlüssig beantworten können und nach Einschätzung beider Gerichte keine Belastungstendenz gegenüber dem Kläger gezeigt. Schließlich seien die von den Zeuginnen geschilderten sexuellen Übergriffe des Klägers derart eindeutig, dass das von dem Kläger behauptete Missverständnis hinsichtlich einer eigenen Behandlungsmethode, die den Patientinnen nur besser erklärt werden müsse, ausgeschlossen werden könne.[22]

In Bezug auf den Verstoß gegen die Berufspflichten des Physiotherapeuten führt der Senat aus, der Kläger habe sexuelle Handlungen im Rahmen einer physiotherapeutischen Behandlung stets zu unterlassen. Selbst wenn die Patientinnen zu dem Verhalten zugestimmt hätten, würde es an der rechtlichen Bewertung nichts ändern. Es obliege nicht den Patientinnen eines Physiotherapeuten, eine korrekte Behandlung medizinischen Standards einzufordern.[23]

Die auf Grundlage der Tatsachen getroffene Prognoseentscheidung sei ebenfalls nicht zu beanstanden. Indem der Kläger durch sein Verhalten in die körperliche Integrität, die sexuelle Selbstbestimmung und die Ehre seiner Patientinnen eingegriffen hat, habe er wesentliche Berufspflichten eines Physiotherapeuten in gravierender Weise verletzt. Der von dem Kläger vorgenommene sexuelle Missbrauch von Patientinnen unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses erweise sich nach Art, Schwere und der Anzahl der Verstöße gegen die Berufspflichten als derart schwerwiegend, dass eine negative Prognose gerechtfertigt. Gerade als Ausübender eines Heilberufs mit engem Kontakt zum Körper anderer Personen habe er ein vertrauensbildendes und vertrauenswürdiges Verhalten an den Tag zu legen. Hierzu gehöre insbesondere bei unmittelbarem Körperkontakt eine professionelle Handhabung, die sich ausschließlich in den Grenzen halte, die nach der Behandlungsmethode erforderlich ist. Handele ein Physiotherapeut dem zuwider und nutze – wie hier – das bestehende Vertrauensverhältnis zum Nachteil des Patienten aus oder verletze dieses in erheblicher Weise, liege darin regelmäßig ein schwerwiegender Verstoß gegen eine wesentliche Berufspflicht.[24]

Angesichts der Schwere seiner Verfehlungen vermag der Umstand, dass der Kläger zu dem damaligen Zeitpunkt bereits seit Jahrzehnten beanstandungslos als Physiotherapeut tätig gewesen und niemals straffällig geworden war, ihm nicht zu einer positiven Prognose verhelfen.[25] Hinzu komme, dass er die Taten in typischen Behandlungssituationen beging, in denen er sich als Physiotherapeut regelmäßig wiederfinden würde. Dies erhöhe die Gefahr erneuter sexueller Übergriffe.[26]

cc) Keine Bindung an die strafgerichtlichen Rechtsfolgen

Zunächst stellt das OVG fest, dass die Strafurteile ohnehin außer Betracht blieben, weil sie nach Erlass des Bescheids verkündet worden sind. [27]

Eine abweichende Würdigung des klägerischen Verhaltens führe aber auch nicht zu Wertungswidersprüchen. Die Strafaussetzung nach § 56 StGB dient der Resozialisierung des Verurteilten während der Widerruf der Erlaubnis zum Führen einer Berufsbezeichnung die Gefahrenabwehr bezwecke. Entsprechendes gelte hinsichtlich der Entscheidung der Strafgerichte, kein Berufsverbot nach § 70 StGB zu verhängen.[28]

b) Gefährdung öffentlicher Interessen

Die Gefährdung öffentlicher Interessen besteht in der möglichen Gesundheitsgefährdung von Patientinnen und Patienten sowie einer Gefährdung des Ansehens der Heilberufe.[29]

2. Rechtsfolge: Ermessen

Die Beklagte hat das ihr in § 49 Abs. 2 S. 1 BremVwVfG eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Der Widerruf ist verhältnismäßig.

Im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG ist der Widerruf der Erlaubnis zur Führung einer Berufsbezeichnung nur dann gerechtfertigt, wenn der mit dem Ausschluss des Betroffenen von einer weiteren Berufsausübung bezweckten Abwehr von Gefahren für das Gemeinwohl ein Gewicht zukommt, das in einem angemessenen Verhältnis zu der Schwere des damit verbundenen Grundrechtseingriffs steht.[30]

Hinweis: Drei-Stufen-Theorie

Aufmerksamen Leser:innen wird nicht entgangen sein, dass das OVG hier die altbekannte Drei-Stufen-Theorie zur Systematisierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung anwendet – zur Erinnerung:


Ermessensfehler seien nach Ansicht des OVG nicht ersichtlich. Die vom Kläger geforderten milderen Maßnahmen, etwa eine Auflage zur Behandlung ausschließlich männlicher Patienten oder eine Behandlung in stetiger Anwesenheit einer anderen Person, seien nicht ebenso geeignet, die Ziele des angegriffenen Bescheids zu erreichen. [31]

Nach st. Rspr. des BVerwG ist die berufsrechtliche Zuverlässigkeit unteilbar. Durch die Fixierung des Berufsbilds werde notwendigerweise auch der Rahmen bestimmt, auf den sich die berufsrechtlichen Zugangsvoraussetzungen beziehen. Insoweit gelte für die Zuverlässigkeit nichts anderes als für andere Zugangsvoraussetzungen, etwa die erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten oder die körperliche Eignung. Sie müssten in einem Maße vorhanden sein, das den Anforderungen des gesetzlichen Berufsbilds entspricht und sie ausfüllt. Da eine Erteilung der Erlaubnis ausscheide, wenn der Antragsteller keine Gewähr dafür bietet, seine Berufspflichten – und zwar alle – zuverlässig zu erfüllen, steht es spiegelbildlich einem Widerruf nicht entgegen, dass er einem Teil seiner Berufspflichten nach wie vor zuverlässig nachkomme.[32] Das Berufsbild des Physiotherapeuten lasse sich zudem nicht nach männlichen und weiblichen Patientengruppen unterteilen und regele auch keine Tätigkeit „unter ständiger Aufsicht“.[33]

Dogmatische Vertiefung

Ein wirksamer Verwaltungsakt bindet nicht nur den Betroffenen, sondern auch die Behörde. Ändert sich die Sach- und Rechtslage, möchte die Behörde ihre Entscheidung womöglich rückgängig machen. Wir wollen uns daher näher mit dem Widerruf von rechtmäßigen Verwaltungsakten gem. § 49 VwVfG beschäftigen.

I. Abgrenzung von Rücknahme und Widerruf

Ein Verwaltungsakt bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist, § 43 Abs. 2 VwVfG. Widerruf und Rücknahme sind die beiden Aufhebungsakte, die vom Verwaltungsverfahrensgesetz besonders geregelt sind.

Ein Verwaltungsakt kann zurückgenommen werden, wenn er ursprünglich rechtswidrig war (§ 48 VwVfG). Dagegen ist der Widerruf einschlägig, wenn der Verwaltungsakt ursprünglich rechtmäßig war (§ 49 VwVfG).

Die Abgrenzung kann im Einzelfall Probleme bereiten. Lagen schon bei Erteilung der Erlaubnis nicht alle Voraussetzungen vor oder sind sie erst nachträglich weggefallen? In der Klausur ist hier genau zu arbeiten. Die Verwaltung darf nach überwiegender Ansicht auch die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts auf § 49 VwVfG (analog) stützen: wenn und soweit schon rechtmäßige Verfügungen aufgehoben werden dürfen, muss dies „erst recht“ für rechtswidrige Verwaltungsakte gelten.[34]

 

II. Der Widerruf gem. § 49 VwVfG

Beim Widerruf ursprünglich rechtmäßiger Verwaltungsakte ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Vertrauensschutz des Betroffenen und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in Ausgleich zu bringen.[35]

Bei nicht begünstigenden Verwaltungsakten ist der Widerruf daher nicht weiter problematisch: er kann stets widerrufen werden, es sei denn, ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts müsste erneut erlassen werden[36] oder der Widerruf aus anderen Gründen unzulässig ist, § 49 Abs. 1 VwVfG. Der Betroffene hat kein schutzwürdiges Interesse am Bestand eines für ihn ungünstigen Verwaltungsakts.

 

Demgegenüber können rechtmäßige begünstigende Verwaltungsakte grundsätzlich nicht widerrufen werden. Nur in den in § 49 Abs. 2 S. 1, 3 S. 1 VwVfG aufgelisteten Fällen ist ein Widerruf ausnahmsweise zulässig und dies auch nur innerhalb der Jahresfrist des §§ 49 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2 i.V.m. 48 Abs. 4 VwVfG.[37]

Zunächst ist zu prüfen, ob der Verwaltungsakt eine Geld- oder Sachleistung gewährt.

Wenn ja, dann seid ihr im Bereich des § 49 Abs. 3 S. 1 VwVfG. Der Begünstigte darf grundsätzlich in den Bestand der Leistung vertrauen, es sei denn, er verwendet die Leistung nicht zweckgemäß oder er hat eine Auflage nicht erfüllt. Die Besonderheit ist, dass ein Widerruf hier auch mit Wirkung für die Vergangenheit möglich ist.

Wenn nein, dann ist § 49  Abs. 2 S. 1 VwVfG einschlägig. Es ist zwischen Nr. 1 und 2 und Nr. 3- 5 zu differenzieren. Die ersten beiden Nummern erlauben den Widerruf, wenn der Begünstigte sich nicht der Verfügung entsprechend verhalten hat oder diese von vornherein unter dem Vorbehalt der Aufhebung standen. Ansonsten ist der Widerruf nur möglich, wenn sich die (tatsächlichen oder rechtlichen) Grundlagen nachträglich verändert haben und/oder ein Widerruf im öffentlichen Interesse liegt. In diesen Fällen ist dem Begünstigten daher gem. § 49 Abs. 6 VwVfG ein eventueller Vertrauensschaden zu ersetzen, soweit sein Vertrauen schutzwürdig ist.[38]

Die Regelungen über den Widerruf eines begünstigenden Verwaltungsakts wegen Zweckverfehlung (§ 49 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 1, 2 VwVfG) eröffnen ein intendiertes Ermessen: Die Behörde ist zum Widerruf verpflichtet, wenn keine atypischen Umstände vorliegen.

III. Die Jahresfrist

Ein Jahr klingt lang, doch trotzdem wirft die Jahresfrist gem. §§ 49 Abs. 2 S. 2, 48 Abs. 4 VwVfG in Praxis und Klausur regelmäßig Probleme auf.

Der Widerruf eines begünstigenden Bescheides ist innerhalb eines Jahres ab dem Zeitpunkt zulässig, zu dem die Behörde Kenntnis von denjenigen Umständen erlangt hat, die sie zum Widerruf berechtigen.

Die Jahresfrist gilt auch, wenn eine spezielle Widerrufsermächtigung keine eigene Fristregelung trifft.[39] Ob die spezialgesetzliche Regelung die Frist erfassen wollte oder nicht, ist nicht immer eindeutig, im Zweifel also durch Auslegung zu ermitteln. So gilt die Widerrufsfrist nicht für § 15 Abs. 2 GastG, weil das Vertrauen des Gastwirts im Fall von Verfehlungen nicht schutzwürdig ist.[40] In der Klausur kommt es nicht darauf an, die „richtige“ Lösung zu finden, sondern vertretbar zu argumentieren.

Ein wahrer Klausurklassiker ist die Frage, auf wessen Kenntnis für den Fristbeginn abzustellen ist. Reicht es, wenn die widerrufsbegründenden Umstände in die „Sphäre“ der Behörde gelangt ist oder muss der konkret zuständige Sachbearbeiter Kenntnis haben? Nach Ansicht des BVerwG ist die Jahresfrist eine Entscheidungsfrist, die erst zu laufen beginnt, wenn dem zuständigen Amtswalter innerhalb der Behörde alle erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind.[41] Das Widerrufsrecht kann allerdings verwirkt werden, wenn die Behörde sich besonders viel Zeit für ihre Ermittlungsmaßnahmen nimmt und der Bürger darauf vertrauen durfte, dass eine Widerrufsentscheidung nicht ergeht.[42]

IV. Fazit

Keine Panik beim Erlaubniswiderruf in der Examensklausur! Wer ruhig bleibt, aufmerksam den Sachverhalt mitsamt Klägervorträgen sowie das Gesetz liest und ein paar Grundregeln beachtet, dem steht einem gutem Ergebnis nichts mehr im Wege:

  1. Gibt es eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage? (Wenn nicht von den Parteien angesprochen oder hinten in der Klausur abgedruckt, hilft ein Blick ins Schlagwortverzeichnis deines Gesetzes.)
  2. War der Verwaltungsakt ursprünglich rechtmäßig oder rechtswidrig? Eine präzise Unterscheidung hilft, die richtige Norm zu finden. Im Zweifel ist zunächst auf den (strengeren) 49 VwVfG zu rekurrieren: Wenn hier die Voraussetzungen vorliegen, dann erst recht hinsichtlich eines ursprünglich rechtswidrigen Verwaltungsakts.
  3. Liegen die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage vor?
  4. Hat die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens den Vertrauensschutz des Begünstigten hinreichend berücksichtigt? Welche anderen schutzwürdigen Interessen stehen auf dem Spiel?
  5. Werden die Vorschriften zur Aufhebung des Verwaltungsakts ausnahmsweise durch europäisches Recht überlagert (Stichworte: Europäisches Beihilferecht & effet utile)?[43]

[1] Zum ausführlichen Sachverhalt: OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493.

[2] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 2.

[3] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 2, 3.

[4] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 3.

[5] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 4.

[6] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 6.

[7] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 17.

[8] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 20.

[9] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 20.

[10] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 20.

[11] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 22.

[12] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 25 unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung des BVerwG (z.B. BVerwG, Urt. v. 28.4.2010 – 3 C 22.09, juris, Rn. 10).

[13] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 25 ebenfalls unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung des BVerwG (z.B. BVerwG, Beschl. v. 09.11.2006 – 3 B 7.06, juris, Rn. 10.

[14] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 26.

[15] Schoch/Schneider/Riese, 44. EL März 2023, VwGO § 113 Rn. 239.

[16] Schoch/Schneider/Riese VwGO § 113 Rn. 264.

[17] Schoch/Schneider/Riese VwGO § 113 Rn. 257 ff.

[18] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 26.

[19] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 27 f.

[20] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 29.

[21] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 30.

[22] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 31 f.

[23] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 33.

[24] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 34.

[25] Merke: Bei einmaligen Verstößen ist eine negative Zukunftsprognose stets in besonderem Maße begründungsbedürftig.

[26] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 35.

[27] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 39.

[28] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 40 f. Merke: Bei der Gewerbeuntersagung ist das anders, vgl. § 35 III 1 Nr. 3 GewO.

[29] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 43.

[30] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 45.

[31] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 46.

[32] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 47 unter Verweis auf BVerwG, Urt. v. 28.04.2010 – 3 C 22.09, juris Rn. 13.

[33] OVG Bremen, Urt. v. 05.09.2023 – 1 LB 176/23, BeckRS 2023, 27493, Rn. 48.

[34] Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2014, 695, 696.

[35] Schoch, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Bd. III, Loseblatt: 4. EL. Nov. 2023, § 49 VwVfG Rn. 4.

[36] Beachte: Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn die Behörde zum Erlass des Verwaltungsakts verpflichtet war, z.B. weil ein Dritter einen Anspruch darauf hat.

[37] Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2014, 695, 697.

[38] Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2014, 695, 697.

[39] Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 49 Rn. 1, 85.

[40] Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 05.12.1986 – 14 S 179/86, NVwZ 1987, 339.

[41] Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2014, 695, 697.

[42] Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 48 Rn. 204.

[43] Verfasserin:  Leonie Gutsch, Referendarin bei HLB Schumacher Hallermann.

Supervision:     Christian Lederer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei HLB Schumacher Hallermann

Dr. Lennart Brüggemann, Rechtsanwalt & Partner bei HLB Schumacher Hallermann.

Wir beraten Sie

Telefon E-Mail

Das könnte Sie auch interessieren: