Entscheidung des Monats April 2022

Erfolgszurechnung bei bewusster Selbstgefährdung von Rettungspersonen (sog. Retterfälle)

Hinweis vom HLB-Team: Das Strafrecht nimmt im Studium der Rechtswissenschaften und in  den späteren Examen eine ganz besondere Stellung ein: Kaum ein Fach polarisiert mehr.  Verliert sich manch einer in den spannenden und plastischen Lebenssachverhalten, verzweifelt  manch anderer an den schier endlosen Details eines im Grunde unstreitigen Meinungsstreits.  Doch in den beiden Staatsexamen gilt es nun einmal eine bzw. zwei Klausuren zu lösen – und  das unter Zeitnot. Keine Frage, da lohnt sich ein vertiefender Blick auf das Geschehen in der  Rechtsprechung.  Genauer  gesagt  auf  die  Entscheidungen  der  sechs  Strafsenate  des  Bundesgerichtshofs (BGH)1. Eine interessante Entscheidung möchten wir euch nun vorstellen,  gefolgt  von  einem  Vertiefungsteil.  Passend  zum  Ostermonat  haben  wir  für  neugierige  Leserinnen und Leser einige „easter eggs“ in Form von für die mündliche Prüfung nützlichen  „fyi’s“ vergraben.

Insbesondere  geht  es  in  unserer  Ostermonatsausgabe  um  die  spannende  Frage  der  Erfolgszurechnung bei bewusster Selbstgefährdung von Rettungspersonen (sog. Retterfälle:  Feuerwehr, Polizei etc.) im Rahmen der §§ 222, 229 StGB.

Die Hintergründe zum Sachverhalt

Im   Herbst   2016   erfolgten   auf   dem   Werksgelände   Ludwigshafen   der   BASF SE  Routinereparaturarbeiten  an  einer  Rohrleitung.  Letztere  dienen  dem  Transport  von  Fluiden (Gase, Flüssigkeiten) oder rohrtauglichen Feststoffen sowie der Übertragung von  Energie.  Vier  Tage  lang  waren  fachkundige  Mitarbeiter  eines  auf  Rohrleitungsbau  spezialisierten Subunternehmens am 17. Oktober 2016 bereits in dem rund 20 Meter  breiten Rohrgraben mit Arbeiten an den Rohrleitungen beschäftigt. Die Arbeiter sollten im  Auftrag  der  BASF  bei  einer  „Propylen  flüssig  95%“-Leitung  ein  Element  zum  Spannungsausgleich ( „Dehnungsbogen“) ausbauen und ersetzen.

Menschliches Versagen führte am Unfalltag um 11:26 Uhr  zu einem katastrophalen  Verlauf, der in einem Inferno gipfelte. Der Angeklagte schnitt mit einem Trennschleifer eine falsche, nicht entleerte Rohrleitungstrasse 20 Zentimeter rechts neben dem zu  sanierenden Rohr an. Der rund 15 Zentimeter lange Schnitt in die acht Millimeter dicke  Leitung war nach den späteren landgerichtlichen Feststellungen ein so exakt getätigter  Schnitt,  dass  ein  Versehen  ausgeschlossen  werden  konnte.  In  dem  Rohr  floss  ein  brennbares Butene-Gemisch, das wenig später (vermutlich durch Funken) entzündet  wurde.

Vergebens kämpfen die Arbeiter mit Handlöschern gegen die Flammen. Als die nach drei  Minuten dazu geeilten Feuerwehrmänner der Werksfeuerwehr gerade einen Wasserwerfer aufbauten, um die anderen Rohre zu kühlen, kam es zur Explosion. Fünf  Menschen, darunter vier Feuerwehrmänner der Werkfeuerwehr und ein Matrose eines  Tankschiffs im Betriebshafen, starben in der Folge der Explosion. Es gab 44 Verletzte.  Insgesamt entstand ein Sachschaden in Höhe von rund 100 Millionen Euro.

Die Entscheidung des Monats April 2022

Das  Landgericht  Frankenthal  verurteilte  den  Angeklagten  („A“)  im  Jahr  2019  wegen  tateinheitlicher    fahrlässiger    Tötung    und   fahrlässiger    Körperverletzung zu einer  Bewährungsstrafe von einem Jahr (Urt. v. 27.08.2019, Az. 3 KLs 5122). Dem Gericht zufolge  hatte A Schweißarbeiten an einer stillgelegten Rohrleitung vorzunehmen und setzte  seinen Trennschleifer versehentlich an einer benachbarten gasführenden Leitung an.  Infolgedessen kam es zu einer Explosion mit Toten (u.a. eingesetzte Feuerwehrmänner  der Werkfeuerwehr) und Verletzten. Gegen das Urteil legte A durch seinen Verteidiger Revision ein.

Der BGH hat die Revision des A mit Beschluss v. 05.05.2021 – Az. 4 StR 19/20 – verworfen  und das Delikt der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) lehrreich geprüft.

Rufen  wir  uns  den  Aufbau  eines  fahrlässigen  Erfolgsdelikts  einmal  in  Erinnerung  (genaueres im dogmatischen Teil):

1.    Objektive Fahrlässigkeit (Tatbestandsmäßigkeit) 

„Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen  subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte,  und   wenn gerade die  Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg herbeigeführt hat“.[2]

a.    Objektive Sorgfaltspflichtverletzung

Dem BGH nach habe A objektiv seine Sorgfaltspflicht verletzt, indem er versehentlich den  Trennschleifer an der gasführenden Leitung ansetzte, obgleich es ihm möglich und er  dazu verpflichtet war, das zu bearbeitende Rohr insbesondere anhand der Markierungen zu identifizieren.  Der Schnitt in die Gasleitung für den Eintritt des Todeserfolges und der  Verletzungen der Geschädigten sei kausal.[3]

b.    Objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges

Für die Vorhersehbarkeit reiche aus, dass für A die Folgen seines Handelns in ihrem  Ausmaß im Wesentlichen voraussehbar sind; er musste sie nicht in allen Einzelheiten  voraussehen können. A, der des Öfteren auf dem Betriebsgelände tätig war und das  Gefahrenpotential     der Anlagen kannte, habe vorhersehen können, dass seine Sorgfaltspflichtverletzung zu einer Explosion und diese zum Tod oder Verletzungen der  im Umkreis befindlichen Menschen führen würde.

c.    Objektive Zurechenbarkeit des Erfolges

Für die Zurechenbarkeit des Erfolges bedarf es neben der Vorhersehbarkeit des Erfolges  eines Schutzzweck- & Pflichtwidrigkeitszusammenhangs.

„Maßgebliches  Kriterium  […]  ist  neben  der  objektiven  Vorhersehbarkeit  des  Erfolgs  das  Vorliegen des Schutzzweck- und des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs. Eine Zurechnung  des Erfolgs ist nur möglich, wenn sich gerade die durch die mangelnde Sorgfalt des Täters  gesetzte Gefahr im eingetretenen Erfolg realisiert hat und der Erfolg in den Schutzbereich der  Norm  fällt.  Ferner  werden  Erfolge  nur  dann  zugerechnet,  wenn  sie  im  Falle  eines  pflichtgemäßen Verhaltens des Täters nicht eingetreten wären“.[4 ] Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang ist immer dann zu bejahen, wenn der Erfolg für den  Täter vermeidbar war. Dies richtet sich wiederum insb. nach dem Schutzzweck der Norm.

aa. Schutzzweckzusammenhang der verletzten Norm / Verkehrssitte „

„Der Schutzzweck der den A treffenden Pflichten umfasste den Erfolg, denn die bei den Arbeiten  an Rohrleitungen zu beachtende Aufmerksamkeit diente gerade dazu, Leib und Leben von  Personen auf dem Werksgelände zu schützen“.[5]

bb. Pflichtwidrigkeitszusammenhang

„Bei pflichtgemäßem Handeln wären der Unfall und damit die Folgen mit Sicherheit verhindert  worden“.[6]

cc. Bewusste Selbstgefährdung  (!) / Pflichtverletzung Dritter

Problematisch und damit eingehender zu prüfen war die Frage, ob die Zurechnung der  Tötungs-  und  Verletzungserfolge  ggf.  nach  den  Grundsätzen  der  sog.  bewussten  Selbstgefährdung entfällt.[7] Hier lag der Prüfungsschwerpunkt des V. Strafsenats. Muss  der Verursacher einer Gefahrenquelle für den bei der Gefahrbekämpfung eingetretenen  Tod  oder  für  dabei  erlittene  Körperverletzungen  von  Berufsrettern  strafrechtlich  einstehen?

Hierzu  hält  der  BGH  fest:  Die  Zurechnung  entfällt  nicht  aufgrund  einer  bewussten  Selbstgefährdung.  „Nach  den  Grundsätzen  der  bewussten  Selbstgefährdung  ist  […]  ein  Verletzungserfolg, insbesondere auch der Tod eines Menschen, einem Dritten, der dafür eine  Ursache gesetzt hat, möglicherweise dann nicht zuzurechnen, wenn der Erfolg die Folge einer  bewussten, eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung ist und sich die  Mitwirkung des Dritten in einer bloßen Veranlassung oder Förderung des  Selbstgefährdungsaktes erschöpft hat“.[8] Jedoch ist dieser Grundsatz nach der Rspr. des  BGH in solchen Fällen einzuschränken, in denen sich das Opfer durch eine vom Täter geschaffene Gefahrenlage verpflichtet fühlt, rettend in das Geschehen einzugreifen und sich dabei selbst schädigt. „Dies gilt, wenn der Täter durch seine deliktische Handlung die naheliegende Möglichkeit einer bewussten Selbstgefährdung dadurch schafft, dass er ohne Mitwirkung und ohne Einverständnis des Opfers eine erhebliche Gefahr für ein Rechtsgut des Opfers oder ihm nahestehender Personen begründet und damit für dieses ein einsichtiges Motiv für gefährliche Rettungsmaßnahmen schafft“.[9]

„FREIWILLIGER BERUFSRETTER ≈ BERUFSMÄßIGER RETTER“

„Dieser für die Konstellation eines freiwillig eingreifenden Dritten entwickelten Rechtsgrundsatz ist auf die Zurechnung der Schäden solcher Personen übertragbar, die rechtlich aufgrund von Berufspflichten zum Eingreifen in Gefahrenlagen verpflichtet sind und sich in Erfüllung dieser Rechtspflicht selbst gefährden. Deren Tod oder Verletzung ist grundsätzlich demjenigen zuzurechnen, der die Gefahrenlage geschaffen hat“[10]. Anstelle des einsichtigen Motivs des freiwilligen Retters trete beim berufsmäßigen Retter seine Rechtspflicht zum Einschreiten, welche die Eigenverantwortlichkeit der Entscheidung des Retters weiter einschränke. Hinzu käme, dass solche Retter aufgrund ihrer Fachkompetenz und des damit verbundenen geringeren Verletzungsrisikos höhere Risiken infolge gefährlicher Rettungsmaßnahmen eingehen müssten. Da dem Täter auch eine erfolgreiche
Rettungshandlung zugutekäme, ist es nur konsequent, ihm auch Gefahren bei einem
missglückten Rettungsversuch zuzurechnen und den pflichtigen Retter in den
Schutzbereich der Strafvorschriften miteinzubeziehen. Zudem könnte keine
eigenverantwortliche Selbstgefährdung angenommen werden, wenn den betroffenen
Rettern die volle Kenntnis des Risikos fehle. Jene müssten sich weder das Wissen noch die Sorgfaltspflichtverletzungen anderer am Einsatz oder an dessen Vorbereitung beteiligter
Personen zurechnen lassen.

2. Schuld

Der Senat bejahte die subjektive Vorwerfbarkeit des Erfolgseintritts und bestätigte so die
Verurteilung durch das Landgericht: Dem Täter eines fahrlässig herbeigeführten Brand-
oder Explosionsgeschehens können der durch Rettungsmaßnahmen verursachte Tod
oder die Körperverletzung von Berufsrettern zugerechnet werden.

Wie ist die Entscheidung nun dogmatisch einzuordnen?

Das strafrechtliche Fahrlässigkeitsdelikt nimmt in der juristischen Ausbildung eine
Schlüsselposition ein. Zur Verortung und Schwerpunktsetzung der Prüfung des
fahrlässigen Begehungsdelikts in der juristischen Klausur folgen nun einige
Erläuterungen, inklusive für die mündliche Prüfung relevanter Exkurse, fyi.

Wir erinnern uns: Gem. § 15 StGB ist nur vorsätzliches Handeln strafbar, wenn nicht das
Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. Eine Strafbarkeit wegen
fahrlässigen Handelns prüfen wir daher nur, wenn ein entsprechender Straftatbestand
existiert.

Wer sich indes über einen Umstand, der zum objektiven Tatbestand gehört, irrt, handelt
zwar nicht vorsätzlich (§ 16 I 1 StGB). Er kann sich aber wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts
strafbar machen. Dies stellt § 16 I 2 StGB klar (Rechtsgrundverweisung[11]; JA 2021, 477).
Der Übergang von fahrlässigem zu vorsätzlichem Handeln ist stets graduell. In der
folgenden Abbildung sind die einzelnen Stadien übersichtlich gelistet.

1 Th. Baumann et al. – Nationale Implementation der neuen internationalen statistischen Straftatenklassifikation

Doch wo ist die Fahrlässigkeitsprüfung nun im klassischen strafrechtlichen Aufbau zu
verorten und welche Punkte gilt es zu besprechen?

Grundlegend hat anders als beim vorsätzlichen Begehungsdelikt eine Aufspaltung der
Prüfung des jeweils objektiven und subjektiven Fahrlässigkeitsvorwurfs zu erfolgen. Die
subjektive Fahrlässigkeit ist erst im weiteren Verlauf unter dem Prüfungspunkt „Schuld“
zu untersuchen, da die subjektive Vorwerfbarkeit des Erfolges eine wesentliche
Besonderheit der fahrlässigen Straftat kennzeichnet.

Offensichtlich entfällt bei der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit also der subjektive
Tatbestand. Die subjektive Missachtung von Sorgfaltsnormen wird als persönlicher
Vorwurf verstanden, der eben im Kontext der Schuld geprüft werden muss. Es folgt ein
einprägsames Schema, inklusive einiger Tipps:

I. Tatbestandsmäßigkeit

1. Eintritt des tatbestandlichen Erfolges

2. Für den Erfolgseintritt kausale Handlung des Täters

3. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
Objektiv sorgfaltswidrig handelt, wer die im Verkehr aus ex-ante-Sicht eines besonnenen
und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage erforderliche Sorgfalt
außerachtlässt. Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt bestimmen sich nach den
Anforderungen, die bei objektiver Betrachtung der Gefahrenlage ex-ante an einen
besonnen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des
Handelnden zu stellen sind.

4. Objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges
Erfolg und Kausalverlauf müssen für einen durchschnittlichen Angehörigen des jeweiligen
Verkehrskreises vorhersehbar sein.

5. Objektive Zurechnung des Erfolges („Pflichtwidrigkeitszusammenhang“)
a. Schutzzweck der verletzten Norm / Verkehrssitte
Wollen die §§ 222, 229 StGB gerade „Leib und Leben von Personen auf dem
Werksgelände schützen“? Hierzu zwei weitere Fälle zur Verdeutlichung:

Fall 1: Ein Kraftfahrer überfährt mit erhöhtem Tempo leichtsinnig eine rote Ampel an
einer Kreuzung ohne dass etwas passiert. Einen Kilometer weiter verletzt er jedoch trotz
inzwischen korrekter Fahrweise ein Kind, das plötzlich auf die Straße vor den Pkw läuft.

Bei der Bearbeitung dieses Falles liegt nahe, dass die Überschreitung der
Geschwindigkeit und das Überfahren der roten Ampel kausal für den Erfolgseintritt
(das Verletzen des Kindes) ist, da der Autofahrer, hätte er sein Tempo gedrosselt
bzw. wäre er bei rot an der Ampel stehen geblieben, später am Unfallort
angekommen wäre und das Kind mit Sicherheit nicht angefahren hätte. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die Sorgfaltsnorm zur Einhaltung
der Ampelphasen die Verkehrskreuzung schützt und nicht der Vermeidung von
späteren Folgen dient. Im Erfolg (Verletzung des Kindes), haben sich also nicht die
der Normverletzung anhaftenden Risiken verwirklicht. Der Fahrer unterliegt in
diesem Fall nicht dem Schutzbereich der verletzten Norm. Außerdem hat die
Geschwindigkeitsbegrenzung nicht den Inhalt, die Ankunft des Pkws an einem
anderen Ort zu verzögern.[12]

Fall 2: Ein Pkw-Fahrer fährt mit 1,2 Promille Blutalkohol und ohne Führerschein mit
erlaubten 100 km/h auf der Landstraße und überholt einen Mofa-Fahrer, der plötzlich
und verkehrswidrig nach links abbiegen will. Der Mofa-Fahrer wird vom Pkw-Fahrer
erfasst und verunglückt tödlich. Ein Sachverständigengutachten ergibt, dass der Unfall
auch für einen nüchternen Fahrer mit Fahrerlaubnis unvermeidbar gewesen wäre.
Jedoch wäre der Unfall vermeidbar gewesen, wenn der Pkw-Fahrer mit einer seiner
Reaktionsfähigkeit angepassten Geschwindigkeit von 60 km/h gefahren wäre.

Im zweiten Beispiel werden vom Pkw-Fahrer zwei Normen verletzt: das Fahren im
Zustand der Fahruntüchtigkeit (§ 316 StGB) und das Fahren ohne Führerschein
(§ 21 I Nr. 1 StVG). Hätte sich der Fahrer nicht rechtswidrig ins Auto gesetzt, um mit
diesem zu fahren, hätte er den Unfall vermeiden können. Hier verhält es sich
ähnlich wie im obigen Fall: Der Schutzzweck der Normen liegt darin, die Gefahren,
die mit alkoholisiertem Fahren oder aufgrund mangelnden Fahrkönnens
zusammenhängen, zu vermeiden. Der Schutzbereich gilt jedoch nicht für etwaige
Unfälle, die durch ordnungsgemäßes Fahren entstehen.

Anders werden diese Fälle von der Rspr. behandelt. Sie stellt darauf ab, wie schnell
ein Fahrer mit herabgesetzter Reaktionsfähigkeit noch hätte fahren können, um bei
auftretenden Gefahren noch ausreichend reagieren zu können. Sie bejaht eine
Strafbarkeit daher in Fällen, bei denen bei reduzierter Geschwindigkeit der Unfall
hätte vermieden werden können.[13]

Die Rspr. des BGH wird von der überwiegenden Meinung in der Literatur abgelehnt,
da sie dem betrunkenen Fahrer nicht mehr Pflichten auferlegen will als einem nüchternen Fahrer. Sie sieht das langsamere Fahren im Zustand der Fahruntüchtigkeit auch als rechtswidriges Verhalten an und möchte es nicht als Ersatz für das Fahren im Zustand der Fahruntüchtigkeit mit erlaubter Geschwindigkeit stellen. Denn Vergleichsmaßstab ist nach dieser Meinung nur ein nüchterner Fahrer in derselben Situation. Demnach würde eine Strafbarkeit der Literatur nach zu folgen entfallen.[14]

b. Rechtmäßiges (pflichtgemäßes) Alternativverhalten
Exkurs: Es kann angebracht sein, einen Vergleich mit dem rechtmäßigen
Alternativverhalten herzustellen. Sofern der Autofahrer A mit dem Radfahrer B
kollidiert, müsste man eine alternative Handlung parat haben. Wäre der Unfall bei
Einhaltung des notwendigen Seitenabstandes ausgeblieben? Allerdings ist es
umstritten, wie es mit den jeweiligen Wahrscheinlichkeiten beschaffen sein muss.
Nach der sog. Risikoerhöhungslehre würde es bereits ausreichen, wenn durch die
Vornahme des rechtlich gebotenen Verhaltens die Wahrscheinlichkeit des
Erfolgseintritts gesunken wäre. Dies ist aber nicht überzeugend und widerspricht
dem in dubio pro reo-Grundsatz. Zudem würden somit Verletzungsdelikte in
Gefährdungsdelikte umgewandelt werden, da bereits das Vorliegen eines
gefährlichen Verhaltens für die Strafbarkeit genügen würde. Dem Täter muss also
der kausale Zurechnungszusammenhang positiv nachgewiesen werden. Der
Täter kann sich mithin auf einen hypothetischen Kausalverlauf berufen, sofern
derselbe Erfolg auch bei Einhaltung der gebotenen Sorgfalt eingetreten wäre.
Folglich ist es von fundamentaler Bedeutung, dass dem Täter das Ausbleiben des
tatbestandlichen Erfolges bei Beachtung der Sorgfaltspflicht mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden kann. Der gleiche Streit liegt
übrigens bei der Quasi-Kausalität im Kontext der Unterlassungstat (dort
Risikoverringerungslehre) vor.

c. Eigenverantwortliche Selbstgefährdung[15] / Pflichtverletzung Dritter

II. Rechtswidrigkeit

III. Schuld (≈ subjektive Vorwerfbarkeit)
Wie gewohnt wird – sollte der Fall denn Anhaltspunkte dazu bieten – auf die Prüfungspunkte
Schuldfähigkeit, Entschuldigungsgründe, (potenzielles) Unrechtsbewusstsein sowie besondere Schuldmerkmale einzugehen sein.

Ungewöhnlicher, dafür folgerichtig, ist die hier zu verortende Prüfung der subjektiven
Fahrlässigkeit, welche die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung bei subjektiver
Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts für den Beschuldigten bezeichnet. Maßstab sind hier
die – einschränkenden – persönlichen Fähigkeiten und Kenntnisse des Täters. Der Täter muss
nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen in der Lage gewesen sein, sorgfältig zu handeln und die wesentlichen Folgen seiner Tat abzusehen.[16]

Die besprochene Entscheidung bietet allemal Stoff für eine spannende strafrechtliche
Prüfung. Solche Retterfälle eignen sich in besonderem Maße um die Kenntnisse rund um
das Fahrlässigkeitsdelikt abzuprüfen. Ebenso sind jene Konstellationen spannend, in
denen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass der Taterfolg (im
Falle des § 222 StGB zB der Todeserfolg) auch bei pflichtgemäßem, rechtlich erlaubtem
Verhalten des Täters eingetreten wäre. Gründe dafür können zB Naturereignisse oder
ein eigener Verhaltensfehler des Opfers gewesen sein; der Erfolg muss also unvermeidbar gewesen sein. Hier ist die dogmatische Begründung sowie die Verortung der Prüfung des spezifischen Zusammenhangs zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg, der für die Erfolgszurechnung erforderlich ist, im Deliktsaufbau umstritten (vgl. oben
„Alternativverhalten“; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, Rn. 953).

Es empfiehlt sich in die einschlägige Rechtsprechung und Literatur einzulesen. Beherrscht
Ihr diese Schlüsselfragen der strafrechtlichen Diskussion um das Fahrlässigkeitsdelikt
droht keine böse Überraschung.

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[1] fyi: hingegen gibt es 13 vollwertige Zivilsenate, 8 „übrige Senate“ (Spezialmaterie wie Berufsrecht) sowie 2 „Große Senate“.
[2] NJW 2021, 3340 Rn. 11.
[3] NJW 2021, 3340 Rn. 14 ff.
[4] NJW 2021, 3340 Rn. 14 ff.
[5] NJW 2021, 3340, Rn. 22.
[6] NJW 2021, 3340.
[7] NJW 2021, 3340, Rn. 23 ff..
[8] NJW 2021, 3340, Rn. 24.
[ 9] NJW 2021, 3340, Rn. 25.
[10] NJW 2021, 3340, Rn. 26.
[11] fyi: Was war nochmal was? Rechtsfolgenverweisung meint, dass eine Norm bestimmte (eigene) Tatbestandsvoraussetzungen (TB-Vs.) aufstellt, hinsichtlich der Rechtsfolge aber auf eine andere Norm verweist. Deren TB-Vs. sind dann nicht relevant (zB § 823 II 1, der auf § 823 I verweist uvm.). Ein allen voran semantischer Griff des Gesetzgebers, der eine unnötige Wiederholung vermeidet.

Rechtsgrundverweisung meint, dass eine Norm nicht nur hinsichtlich der Rechtsfolgen, sondern auch hinsichtlich der TB-Vs. auf eine andere Norm verweist. Dann müssen die Vs. der verweisenden Norm und die Vs. der Norm auf die verwiesen wird vorliegen (zB § 951 BGB, § 27 HGB). Vertiefend: Wörlen/Leinhas: Rechtsfolgen- und Rechtsgrundverweisungen im BGB (JA 2006, 22).

[12] Küper, Fs. Lackner, 1987, 251; Kretschmer, Jura 2000, 267, 275.
[13] BGHSt 24, 31, 35 ff.
[14] Kühl, § 17, Rn. 63; Roxin AT II, § 11, Rn. 102; Eisele JA 2003, 47 f.; Rengier, § 52, Rn. 41.
[15] Hier ist der „Retterfall“ dogmatisch zu problematisieren.
[16] fyi: Leichtfertigkeit ((NJW-RR 1994, 1469 [1471]; krit. Roxin AT I § 24 Rn. 82.; BGHSt 33, 66 [67]) erfordert mithin eine erheblich gesteigerte Erkennbarkeit und eine schwerwiegende
Sorgfaltspflichtverletzung. Letztere kann darin liegen, dass mehrere Sorgfaltspflichten verletzt werden, eine besonders wichtige Pflicht missachtet wird oder der Verstoß gegen die Sorgfaltsanforderungen besonders schwerwiegend ist.

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