Entscheidung des Monats August 2025

Strafrecht - Verkehrsstrafrecht, Elektrokleinstfahrzeuge und alkoholisiertes Fahren

Die Hintergründe der Entscheidung

A und B verbringen ihre Wochenenden gerne „auf der Hütte“, einer abgelegenen und vollmöblierten Scheune mit selbstverlegter Stromversorgung im Privatbesitz des Vaters des Nachbarn N. Dort lassen sie, zusammen mit weiteren Eingeweihten, bei lauter Musik und üppigen Mengen Alkohol regelmäßig gemeinsam „Dampf ab“. So geschah es auch am Samstagabend des 30. April 2022. Als A und B eine halbe Stunde vor Mitternacht aufbrechen wollten, da sie noch den Besuch einer „Tanz in den Mai“-Feier auf einem etwa 4 km entfernten Bauernhof beabsichtigten, fiel ihnen auf, dass der letzte Bus vor einer Stunde abgefahren ist. B war enttäuscht, da er seinen Schwarm auch auf der Dorfparty vermutete. A, der seinem Freund helfen wollte, dessen Schwarm noch vor Mitternacht zu erreichen, zerbrach kurzentschlossen eine auf dem Sofatisch stehende Krombacher-Flasche und hielt diese dem N vor den Hals. N hatte nur Minuten zuvor damit geprahlt, dass sein bis zu 25 km/h schneller E-Scooter, „der schnellste im Dorf sei“. Mit ernster Miene, die Schnittkante der Flasche am Hals des N aufgelegt, sagte A zu N: „Wenn dir dein Leben lieb ist, gibst du uns jetzt deinen Scooter!“ Da die Flasche bereits eine unangenehme Hautrötung bei N verursachte und dieser keinen Ausweg aus der brenzligen Lage sah, händigte der N dem A das Schloss zu seinem E-Scooter mit den Worten „Er steht gleich hinter der Hütte, los nimm schon!“ aus.

A und B befuhren gemeinsam auf dem E-Scooter im Rahmen einer „Probefahrt“ einen Radweg im öffentlichen Verkehrsraum. A fuhr in erster Position hinter dem Lenker und bestimmte die Lenkrichtung sowie die Geschwindigkeit. Der B, der hinter dem A auf dem E-Scooter stand, war Sozius (= Beifahrer), wobei er sich – trotz seiner auf dem Roller hinteren Position – am Lenker festhielt. Die Fahrt verlief zunächst unspektakulär, wobei A sehr schnell und teilweise auf der Gegenfahrbahn fuhr. Im letzten Drittel der Strecke kam es infolge einer weiteren Unaufmerksamkeit des A beinahe zu einem Unfall, als er mit dem E-Scooter gerade noch einer Straßenlaterne ausweichen konnte. Die Fahrt wurde schließlich durch eine Polizeistreife beendet. Eine dem A sodann – ungefähr 75 Minuten nach Fahrtende – entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,29 ‰. Der B wies seinerseits eine BAK von 1,2 ‰ auf.[1]

Hat sich der A in Bezug auf die „Probefahrt“ gem. § 316 StGB strafbar gemacht? [2]

Ergänzende Hinweise zum Sachverhalt[3] und zu Straßenverkehrsdelikten in der Examensklausur[4] in den ausgewiesenen Fußnoten.

Die Entscheidung

 

HINWEIS: REVISION, §§ 333, 349 STPO, § 135 ABS. 1 GVG

Im Mittelpunkt des Revisionsverfahrens vor dem BGH stand die Rechtsfrage nach der Über-tragbarkeit der etablierten Promillegrenzen für Kraftfahrzeugführer zur Beurteilung der Fahr-tauglichkeit auf die Führer von Elektrokleinstfahrzeugen. Der BGH entschied: Das Rechtsmittel ist unbegründet i. S. d. § 349 Abs. 2 StPO, weil die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des A ergeben hat.
Im Folgenden beleuchten wir diese Entscheidung eingehender in gutachterlicher Form.

 

A könnte sich wegen Trunkenheit im Verkehr gem. § 316 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er den E-Scooter des N in Richtung des Dorffests fuhr, nachdem er zuvor Alkohol konsumiert hat.

I. Tatbestand
1.Nach § 316 Abs. 1 StGB wird bestraft, wer im Verkehr ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen.[5]

a. A müsste demnach ein Fahrzeug i. S. d. Norm geführt haben.

Der von A gefahrene „E-Scooter“ könnte ein solches Fahrzeug darstellen.

#DEFIITION Fahrzeugbegriff, § 316 ABS. 1 STGB

Fahrzeuge sind alle zur Ortsveränderung bestimmten Fortbewegungsmittel, die zur Beförderung von Personen oder Gütern geeignet sind, wobei es auf die Antriebsart (Maschinen- oder Muskelkraft) nicht ankommt, weshalb grundsätzlich auch Fahrräder hierunter fallen.

  • Unstreitig erfasst sind alle Kraftfahrzeuge. Hierzu zählen PKW, LKW, Busse, Mofas und Mopeds. Hierunter gefasst werden auch elektrobetriebene Roller, insb. Segways, E-Scooter, E-Boards, Hoverboards und Monowheels und Gokarts.
  • Als sonstige Fahrzeuge werden (Pferde-)Fuhrwerkeund Fahrräder
    • Ein Fahrrad wird allerdings zum Kraftfahrzeug, wenn es über einen (Hilfs-)Motor verfügt, von dem es angetrieben wird.
  • Keine (sonstigen) Fahrzeuge sind Fortbewegungsmittel mit geringem Gefährdungspotential, die deshalb dem Fußgängerverkehr zuzuordnen sind (Kinderwagen, (Tret-)Roller etc.).
  • Streitig ist die Behandlung von Inlineskates, Rollschuhen und Skateboards.

Vgl. MüKoStGB/Pegel, 4. Aufl. 2022, StGB § 316 Rn. 9 sowie ebenda § 315c Rn. 8, 9, 11, 12, 13.

Der von A gefahrene „E-Scooter“ im Eigentum des N dient der Kurzstreckenbewältigung und kann von Werk aus eine Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h erreichen.

Die Fahrzeugeigenschaft ist demnach zu bejahen.

HINWEIS: E-Scooter und KFZ, eKFV

Darauf, ob der konkrete „E-Scooter“ gem. § 1 Abs. 1 der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung (eKFV) bereits als Kraftfahrzeug einzuordnen ist (bitte die Norm lesen!), kommt es hier (noch) nicht an. Die eKFV ist vielmehr erst dann zu bemühen, wenn die für das Straßenverkehrsrecht geltenden Regelungen entscheidungserheblich sind und somit der „E-Scooter“-Fahrer als Kraftfahrzeug-Fahrer qua Gesetz einem anderen Regime unterworfen ist, als etwa der Fahrrad-Fahrer (Stichwort: Grenzwerte).

 

b. Der A müsste auch Führer des „E-Scooters“ gewesen sein.

#DEFINITION Fahrzeugführer, § 316 ABS. 1 STGB

Führer eines Fahrzeugs ist derjenige, der sich selbst wenigstens eines Teiles der wesentlichen technischen Einrichtungen des Fahrzeuges bedient, die für seine Fortbewegung bestimmt sind, also das Fahrzeug unter bestimmungsgemäßer Anwendung seiner Antriebskräfte unter eigener Allein- oder Mitverantwortung in Bewegung setzt oder das Fahrzeug unter Handhabung seiner technischen Vorrichtungen während der Fahrbewegung durch den öffentlichen Verkehrsraum ganz oder wenigstens zum Teil lenkt.

Vgl. LG Oldenburg, Beschl. v. 7.11.2022 – 4 Qs 368/22, NZV 2023, 238.

 

A, der sowohl die Geschwindigkeit als auch die Lenkrichtung durch seine am Lenker befindlichen Hände in erster Position bestimmen konnte, war Fahrzeugführer.

#DEFINITION Fahrzeugführer, § 316 ABS. 1 STGB

Führer eines Fahrzeugs ist derjenige, der sich selbst wenigstens eines Teiles der wesentlichen technischen Einrichtungen des Fahrzeuges bedient, die für seine Fortbewegung bestimmt sind, also das Fahrzeug unter bestimmungsgemäßer Anwendung seiner Antriebskräfte unter eigener Allein- oder Mitverantwortung in Bewegung setzt oder das Fahrzeug unter Handhabung seiner technischen Vorrichtungen während der Fahrbewegung durch den öffentlichen Verkehrsraum ganz oder wenigstens zum Teil lenkt.

Vgl. LG Oldenburg, Beschl. v. 7.11.2022 – 4 Qs 368/22, NZV 2023, 238.

 

c. A führte den E-Scooter auf öffentlichen, baulich frei zugänglichen Landstraßen, mithin im öffentlichen Straßenverkehr.

#DEFINITION Öffentlichkeit, §§ 315 ff STGB

Öffentlich ist der Straßenverkehr, wenn der Verkehrsraum, in dem sich die Vorgänge abspielen, entweder ausdrücklich oder mit stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten für jedermann oder wenigstens allgemein bestimmte Gruppen von Personen (dh für einen zufälligen Personenkreis – wenn auch nur vorübergehend oder gegen Gebühr – zur Benutzung zugelassen ist. Dies beurteilt sich nach den erkennbaren äußeren Umständen.

BeckOK StGB/Kudlich, 66. Ed. 1.8.2025, StGB § 315c Rn. 5

 

§ 316 Abs. 1 Nr. 1a StGB setzt weiter voraus, dass der Täter „infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen“.

d. A könnte hier infolge des der Landstraßenfahrt vorangegangenen Alkoholkonsums rauschbedingt fahruntüchtig gewesen sein.

Eine solche Fahruntüchtigkeit kann durch verschiedene Rauschmittel[6] hervorgerufen werden und liegt vor, wenn der Fahrzeugführer nicht fähig ist, eine längere Strecke so zu steuern, dass er den Anforderungen des Straßenverkehrs – und zwar auch bei plötzlichem Auftreten schwieriger Verkehrslagen – so gewachsen ist, wie es von einem durchschnittlichen Fahrzeugführer zu erwarten ist.[7].

HINWEIS: Beweiswürdigung – Rauschbedingte Fahruntüchtigkeit, § 316 STGB

Nach der st. Rspr. des BGH rechtfertigt allein der Nachweis von Drogenwirkstoffen im Blut für sich allein noch nicht die Annahme der Fahruntüchtigkeit. Vielmehr sind hier stets neben dem Blutwirkstoffbefund noch weitere aussagekräftige Beweisanzeichen erforderlich, die im konkreten Einzelfall belegen, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des betreffenden Kraftfahrzeugführers so weit herabgesetzt war, dass er nicht mehr fähig gewesen ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, sicher zu steuern

Vgl. BeckOK StGB/Kudlich, 66. Ed. 1.8.2025, StGB § 315c Rn. 17

 

A wies zum Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,29  ‰ auf. Er könnte demnach bereits absolut fahruntauglich gewesen sein.[8]

HINWEIS: Absolute und relative Fahruntüchtigkeit, §§ 316 STGB

Die Fahruntüchtigkeit bzw. Fahrunsicherheit kann grds. als absolute (dh bei Erreichen bestimmter, auf Erfahrungswissen beruhender und für jedermann geltender Grenzwerte) oder als relative (dh bei Eintritt einer gewissen berauschenden Wirkung, die deutlich unter den oben genannten Grenzwerten liegt, und dem Hinzutreten von rauschmitteltypischen Ausfallerscheinungen) auftreten. Von praktischer Bedeutung ist aufgrund der in der Rspr. entwickelten Grenzwerte vor allem die absolute Fahruntüchtigkeit beim Führen von Kfz unter Alkoholeinfluss.

Vgl. BeckOK StGB/Kudlich, 66. Ed. 1.8.2025, StGB § 315c Rn. 18 ff.

 

#DEFINITION: Absolute Fahruntüchtigkeit, §§ 315 ff. STGB

Absolute Fahruntüchtigkeit ist in Hinblick auf die Führer von Kfz (neben Autos auch (Leicht/Klein-)Krafträder, Mofas und Segways) ab einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,1 ‰ anzunehmen. Ab diesem Grenzwert wird die Fahruntüchtigkeit für jeden Verkehrsteilnehmer im Prozess unwiderleglich vermutet. Ein „Gegenbeweis“, etwa „besonders viel zu vertragen“ oder besonders alkoholgewöhnt zu sein, wird also nicht zugelassen; Feststellungen über weitere Umstände, insb. die Fahrweise des Fahrzeugführers im konkreten Fall, brauchen nicht getroffen zu werden.

Für Radfahrer werden Werte zwischen 1,7 ‰ (so BGH, Urt. v. 17.7.1986 – 4 StR 543/85) und 1,5 ‰ für die absolute Fahruntüchtigkeit diskutiert. Die 1,6 ‰-Grenze gilt auch für handelsübliche Elektrofahrräder (Pedelecs bis 25 km/h = Fahrrad mit elektrischer Unterstützung der eingesetzten Muskelkraft bis 25 km/h). Vorsicht jedoch: „Hochmotorisierte“ E-Bikes im Wortsinn, also motorisierte Fahrräder, die stets auf Knopfdruck und ohne Trittunterstützung mit Geschwindigkeiten über 25 km/h fahren können, gelten als Kraftfahrzeuge – insoweit kann nichts anderes gelten, als für elektrifizierte Motorroller.

Hinsichtlich E-Scooter ist mit Blick auf die Höchstgeschwindigkeit zu differenzieren: Mit dem vorliegenden Beschluss hat der BGH sich (leider) nur hinsichtlich solcher E-Scooter geäußert, die eine Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h aufweisen. Hinsichtlich jener (rechtsdogmatisch interessanteren) E-Scooter Modelle, die in der Spitze „nur“ 20 km/h fahren (also allem voran die gängigen „Mietroller“), ist nach wie vor ungeklärt, ob die Grenze bei 1,1 oder bei 1,6 ‰ liegen soll; der überwiegenden Rechtsprechung, die auch hier auf den Wert von 1,1‰ abstellte (allerdings Ausnahmen von der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB zulassen will).

BeckOK StGB/Kudlich, 66. Ed. 1.8.2025, StGB § 315c Rn. 20, 21

 

A wäre mit einem BAK von 1,29 ‰ nur dann (zweifelsfrei) absolut fahruntüchtig gewesen, wenn der E-Scooter unter den Begriff des Kraftfahrzeugs zu subsumieren ist und keine anderen, spezielleren (u. U. diese Fahrzeugklasse) privilegierenden Regelungen für den E-Scooter (!) Geltung entfalten.

Bei dem elektrifizierten (Tret-)Roller könnte es sich jedoch um ein Elektrokleinstfahrzeug i.S.d. § 1 Abs. 1 eKFV handeln. Für solche hat der Gesetzgeber eben mit der eKFV ein eigenes Regelungsregime entworfen. Insb. die Übertragbarkeit der etablierten Promillegrenzen für Kfz-Führer zur Beurteilung der Fahrtauglichkeit auf die Führer von Elektrokleinstfahrzeugen ist in diesem Kontext noch nicht höchstrichterlich beurteilt worden.

Jedoch steht vorliegend bereits die technische Beschaffenheit des von A konkret verwendeten E-Scooters, welcher eine Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h erreichen konnte, einer Subsumtion unter § 1 Abs. 1 eKFV entgegen: Gem. § 1 Abs. 1 eKFV sind nur solche Kraftfahrzeuge (privilegierte) „Elektrokleinstfahrzeuge“, die einen elektrischen Antrieb und eine bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von nicht weniger als 6 km/h und nicht mehr als 20 km/h aufweisen. Demnach handelt es sich bei dem E-Scooter des A schlicht um ein Kfz, auf welches die üblichen Promillegrenzen eins zu eins Anwendung finden können.[9] Für den A auf dem elektrifizierten (Tret-)Roller gelten somit nicht jene Grenzwerte einer relativen Fahruntüchtigkeit. Mit einer BAK von 1,29 ‰ war A daher absolut fahruntüchtig (unwiderlegliche Vermutung ab 1,1 ‰).

#DEFINITION: Relative Fahruntüchtigkeit, §§ 315 ff. STGB

Neben der absoluten wird auch eine relative Fahruntüchtigkeit anerkannt, wenn zu einer geringeren Alkoholisierung oder einem nachgewiesenen sonstigen Rauschmittelkonsum noch rauschmittelbedingte (etwa alkoholtypische) Ausfallerscheinungen, insb. in Gestalt von Fahrfehlern, hinzutreten.

  • Ein gefährlicher und schneller Fahrstil kann Indizwirkung haben: Es kommt darauf an, wie sich gerade der betreffende Täter (!) in nüchternem Zustand verhalten hätte.
  • Die Untergrenze einer relativen Fahruntüchtigkeit aufgrund von Alkoholgenuss liegt bei 0,3–0,5 ‰; unterhalb von 0,3 ‰ (jdf. in dubio pro reo) liegt keine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit vor. Mit einem Ansteigen der BAK wird die Bedeutung weiterer Merkmale immer geringer (und umgekehrt).
  • Auch wenn es dem Tatrichter mangels (verwertbarer) Blutprobe, verlässlicher Erkenntnis über das Trinkgeschehen oder „beweissicherer“ Atemtests nicht möglich ist, eine annähernd bestimmte Alkoholkonzentration festzustellen, scheidet die Annahme von alkoholbedingter Fahrunsicherheit nicht zwingend aus (dazu: BayObLG BeckRS 2023, 2008);
  • Eine alkoholbedingte relative Fahruntüchtigkeit kann auch ohne die Feststellung oder die Berechnung einer BAK nachgewiesen werden.

BeckOK StGB/Kudlich, 66. Ed. 1.8.2025, StGB § 315c Rn. 23

 

A handelte somit objektiv tatbestandsmäßig.

2. Er müsste zudem auch vorsätzlich gehandelt haben, § 15 StGB.

#DEFINITION: Vorsatz, §§ 15 STGB

Der Täter handelt vorsätzlich, wenn er mit dem Willen zur Verwirklichung des Tatbestands (voluntatives) in Kenntnis aller objektiven Tatumstände (kognitives Element) handelt, arg. ex. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB.

 

Der Vorsatz erfordert neben dem bewussten und gewollten Führen eines Fahrzeuges wenigstens bedingten Vorsatz hinsichtlich der rauschbedingten Fahrunsicherheit. Letzteres ist ein normativer Rechtsbegriff.

HINWEIS: Vorsatz – Normative Rechtsbegriffe, § 316 STGB

Normative Tatbestandsmerkmale sind auslegungsbedürftig und erfordern eine rechtliche Bewertung. Damit ein juristischer Laie mit Vorsatz bezüglich eines solchen Tatbestandsmerkmals handelt, reicht es aus, dass er dessen sozialen Sinngehalt erkennt (es genügt mithin ein natürliches Verständnis von dem Wesensgehalt des fraglichen Begriffs). Eine juristische Subsumtion ist nicht erforderlich.

 

Entscheidend ist die Kenntnis der Beeinträchtigung der Gesamtleistungsfähigkeit aufgrund des Rauschmittelkonsums. Die vorsätzliche Trunkenheitsfahrt erfordert also, dass der Fahrzeugführer seine Fahruntüchtigkeit kennt oder mit dieser zumindest rechnet und sich damit abfindet. Für den bedingten Vorsatz genügt das Fürmöglichhalten einer so gravierenden Leistungsfähigkeitsbeeinträchtigung, dass den im Verkehr zu stellenden Anforderungen nicht mehr entsprochen werden kann, und des damit Abfindens oder des billigenden Inkaufnehmens.[10]

A fuhr übermäßig riskant, teilweise auf der falschen Spur und beging unaufmerksame Fahrfehler. Er musste spätestens nach dem Beinah-Unfall mit der Straßenlaterne um seine Fahrunsicherheit wissen. Er handelt somit vorsätzlich.

II./III. Er handelte auch rechtswidrig und schuldhaft.

A hat sich somit wegen Trunkenheit im Verkehr gem. § 316 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, indem er alkoholisiert den E-Scooter des N in Richtung des Dorffests fuhr.

Dogmatische Vertiefung

Sowohl in der strafrechtlichen Praxis wie in der juristischen Ausbildung sind Straßenverkehrsdelikte von enormer Relevanz. Sie eignen sich ideal als Querschnittsmaterie: Etwa lassen sich Abgrenzungsfragen in Hinblick auf Vorsatz und Fahrlässigkeit, Fragen ob der Schuldfähigkeit wie in der obigen Entscheidung oder schlicht die Fähigkeit der Prüflinge, mit dem strafrechtlichen Methodenwerkzeug kompetent und zielorientiert umzugehen, in plastischen und greifbaren Lebenssachverhalten abfragen.

A. Prozessuales

HINWEIS: Rechtszug in Strafsachen, GVG, STPO

Prozessual ist aufmerksamen Lesern u. U. eine Besonderheit aufgefallen: Vom Landgericht (LG) Oldenburg ging es für den A direkt zum Bundesgerichtshof (BGH) als Revisionsinstanz. Dies ist dann der Fall, wenn es in der Hauptverhandlung um solche Straftaten geht, welche bereits erstinstanzlich beim LG zu verorten sind (vgl. §§ 74, 24 GVG). Hier wurde der A neben dem Trunkenheitsfahrtgeschehen auch noch wegen räuberischer Erpressung angeklagt (§ 74 Abs. 2 Nr. 14 GVG).

 

B. Übersicht in Hinblick auf BAK-Schwellen im (Straf-)Recht

C. Beweiswürdigung bei Sachverhalten im Kontext mit Alkohol

In der Praxis haben sich zwei Wege, die Blutalkoholkonzentration zu ermitteln, bewährt: Entweder anhand einer Blutprobe oder aus der Atemluft. Die Atemalkoholkonzentration (AAK) kann dabei jedoch lediglich für OWi-Tatbestände eine Rolle spielen.[11] Für die Feststellung der absoluten Fahruntüchtigkeit im Strafverfahren können AAK-Werte nicht herangezogen werden.[12]

Ermittelte Werte spiegeln freilich stets nur einen Gegenwartszustand wider. Für die verfassungskonforme Ermittlung der einschlägigen BAK zur (meist vergangenen) Tatzeit kann sich jedoch unter Zugrundelegung der bioforensischen Vorgänge im menschlichen Organismus und gewisser Zweifelsabschläge zugunsten des Beschuldigten eines Rückrechnungsmodells bedient werden. Die Rückrechnung orientiert sich dabei an der Blutalkoholkurve, welche die Darstellung des zeitlichen Verlaufs der Blutalkoholkonzentration über den Trinkvorgang hinweg abbildet. Sie zeigt Anflutungsphase (der bereits unmittelbar im Gehirn wirkende Alkohol schlägt sich noch nicht unmittelbar nach Trinkende im Blut wieder), Resorptionsphase (ein bis zwei Stunden nach Trinkende) sowie Eliminationsphase.

HINWEIS: Eliminationsphase, BAK

Von der Rspr. wird ein Wert von 0,1 ‰ pro Stunde zugrunde gelegt, wobei die ersten zwei Stunden nach Trinkende (Resorptionsphase) nicht mit berücksichtigt werden, wenn es um die Feststellung der Fahrtüchtigkeit geht. Dies wird dem Grundsatz in dubio pro reo gerecht.

Vgl. BeckOK StGB/Kudlich, 66. Ed. 1.8.2025, StGB § 315c Rn. 29

 

Nach der „Resorptionsphase“ (P1) (in deren Verlauf bereits eliminiert wird) beginnt die „Verteilungsphase“ (P2), die erst nach dem Maximum der Kurve abgeschlossen ist. In dieser Phase verteilt sich der aufgenommene Alkohol vom Hauptort der Resorption, also dem oberen Dünndarm, gleichmäßig auf das Blut. Allerdings kann es auch nach dem Maximum noch zu Nachresorptionen (z. B. von Alkohol-Einschlüssen im Nahrungsbrei) kommen.

Es folgt der Abschnitt, der hauptsächlich von der Elimination geprägt ist. Typisch ist der lineare Abfall der Blutalkoholkonzentration (P3). Die Elimination setzt aber bereits lange vorher ein (praktisch mit dem Eintreffen der ersten Ethanol-Moleküle in der Leber,

HINWEIS: Resorptionsphase, BAK

Von der Rspr. wird ein Wert von 0,1 ‰ pro Stunde zugrunde gelegt, wobei die ersten zwei Stunden nach Trinkende (Resorptionsphase) nicht mit berücksichtigt werden, wenn es um die Feststellung der Fahrtüchtigkeit geht. Dies wird dem Grundsatz in dubio pro reo gerecht.

Vgl. BeckOK StGB/Kudlich, 66. Ed. 1.8.2025, StGB § 315c Rn. 29

 

wenige Minuten nach der Einnahme alkoholischer Getränke). Es wäre daher nicht ganz korrekt, den aufsteigenden Teil der Blutalkoholkurve als reine Resorptions- und den fallenden Kurvenzug als reine Eliminationsphase zu bezeichnen. Man kann lediglich sagen, dass im steigenden Teil der Kurve die Resorption und im fallenden Teil die Elimination überwiegt.“[13]

In der Praxis stellen sich zudem weitere Probleme. Insb. der sog. Restalkohol ist immer wieder Thema bei Gericht: Geht man nach einem größeren Alkoholgenuss, der zu einer BAK von 2,5 ‰ führte, etwa um 01:00 Uhr zu Bett, so ist damit zu rechnen, dass morgens um 07:00 Uhr (etwa bei der Fahrt zur Arbeit) immer noch eine wahrscheinliche BAK von 1,6 ‰ vorliegt (2,5 ‰ abzüglich 6 h × 0,15 ‰). Selbst bei einem sehr hohen Abbau von 0,2 ‰ pro Stunde wäre immer noch mit einer Mindestblutalkoholkonzentration um 1,3 ‰ zu rechnen (2,5 ‰ abzüglich 6 h × 0,2 ‰).“[14]

Der gesicherte Mindestabbau- und somit -rückrechnungswert beträgt pro Stunde 0,1 ‰, der mögliche Höchstwert 0,2–0,4 ‰/h. Als maximaler Rückrechnungswert wird in der Praxis 0,2 ‰/h verwendet, zusammen mit einem zusätzlichen einmaligen Sicherheitszuschlag von 0,2 ‰. Der wahrscheinliche Wert ist mit etwa 0,15 ‰/h anzusetzen; er liegt beim Alkoholiker jedoch meist etwas darüber.

„Bei der Rückrechnung von Mindestwerten kann ein besonderes Problem auftreten, das in Abb. 13.3 verdeutlicht wird. Während die Rückrechnung vom Wert der Blutentnahme (BE) auf den Vorfallszeitpunkt 2 (VF2) statthaft und ohne Schwierigkeiten möglich ist, da dieser Zeitpunkt im geradlinigen Teil der Blutalkoholkurve liegt (die Resorption also bereits weitestgehend abgeschlossen ist), würde die lineare Rückrechnung auf einen in der Resorptionsphase liegenden Vorfallszeitpunkt 1 (VF1) einen zu hohen Wert ergeben und den einer Verkehrsstraftat Verdächtigen benachteiligen.“[15]

HINWEIS: Resorptionsphase, BAK

Voraussetzung für eine korrekte Rückrechnung ist daher, dass die Resorptionsphase zum Zeitpunkt des Vorfalls abgeschlossen war. Somit kann für die Berechnung einer BAK der Rekonstruktion des Trink-Endes (z. B. im Rahmen einer Hauptverhandlung) größere Bedeutung zukommen als der Ermittlung des tatsächlichen Vorfallszeitpunkts, da lediglich auf den Zeitpunkt des sicheren Resorptionsendes (max. 120 min nach Trink-Ende) zurückgerechnet werden darf (BGH St 25, 246).

Vgl. Dettmeyer, R., Veit, F., Verhoff, M.: Forensische Alkohologie und Toxikologie, Kapitel 13.1.6. (Fn. 15).

 

Eine freie richterliche Beweiswürdigung (§ 261 StPO), zu der die juristische Ausbildung letzten Endes befähigen soll, setzt nicht selten ein Verständnis für eben solche naturwissenschaftlichen Vorgänge, die sich „im Hintergrund“ des rechtlichen Sachverhalts abspielen voraus. Was in der Praxis häufig mit dem Ausdruck „allgemeine Lebenserfahrung“ umschrieben wird, ist nicht selten Ergebnis einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaften. Zudem kann von der Kenntnis obiger Vorgänge der ein oder andere eventuell persönlich profitieren.[16]

[1] FYI: Vertiefend zur nachträglichen Rückrechnung von BAK-Werten, insb. der Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo, siehe die dogmatische Vertiefung.

[2] Sachverhalt basiert auf LG Oldenburg, Beschl. v. 7.11.2022 – 4 Qs 368/22, NZV 2023, 238 hinsichtlich B (§ 111a StPO) und LG Oldenburg, Urt. v. 26.7.2022 – 3 KLs 210, Js 62777/20 (62/21) bzw. BGH, Beschl. v. 13.4.2023 – 4 StR 439/22, BeckRS 2023, 9646 hinsichtlich A.

[3] Für den A folgte eine Verhandlung vor der Großen Strafkammer des Landgerichts (LG) Oldenburg: Das Gericht hat den A unter Freispruch im Übrigen wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung sowie fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz unter Einbeziehung der Geldstrafe aus einem vorausgegangenen Strafbefehl zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt, eine isolierte Sperre für die Fahrerlaubnis verhängt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Hiergegen richtet sich die unserer Entscheidungsbesprechung zugrundeliegende Revision des A vor dem BGH. Namentlich hatte das LG allein aus dem festgestellten BAK-Wert, der mangels eines Nachtrunks auch für den Fahrtzeitraum mind. zugrunde gelegt werden konnte, auf die – absolute – Fahruntüchtigkeit des B geschlossen. Hinsichtlich des B hatte die nächtliche Rollerfahrt ebenso einschneidende Konsequenzen: Das Amtsgericht (AG) hatte dem Beifahrer B die Fahrerlaubnis nach § 111 a StPO vorläufig entzogen. Die Beschwerde des B hiergegen wurde sodann vom LG in einem weiteren Verfahren mit Beschluss vom 7.11.2022 als unbegründet verworfen.

[4] Vertiefendes Repetitorium (Leseempfehlung): Kock/Menke/Möslang, JuS 2024, 405.

[5] FYI: Es handelt sich also um ein abstraktes Gefährdungsdelikt und zugleich eigenhändiges Tätigkeitsdelikt mit Dauercharakter. Schutzgut ist die Sicherheit des öffentlichen (Straßen-)Verkehrs.

[6] FYI: Neben Alkohol etwa Cannabis, Benzodiazepine, Opioide usw. denkbar.

[7] BeckOK StGB/Kudlich, 66. Ed. 1.8.2025, StGB § 315c Rn. 16.

[8] FYI: Für andere als alkoholbedingte Rauschzustände sind bisher keine Grenzwerte einer absoluten Fahruntüchtigkeit anerkannt.

[9] BGH, Beschl. v. 13.4.2023 – 4 StR 439/22, SVR 2023, 466 (467).

[10] FYI: § 316 Abs. 2 StGB widmet sich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in jenen Fällen, in denen der Fahrer seine Fahrunsicherheit nicht erkannt hat (das Führen als finales Handeln ist nur vorsätzlich denkbar).

[11] Fischer, StGB-Kommentar, 72. Auflage 2025, § 316 StGB, Rn. 23 f.

[12] Fischer, StGB-Kommentar, 72. Auflage 2025, § 316 StGB, Rn. 23 f.

[13] Dettmeyer, R., Veit, F., Verhoff, M.: Forensische Alkohologie und Toxikologie, Kapitel 13.1.4.4. In: Rechtsmedizin. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg 2019.

[14] Dettmeyer, R., Veit, F., Verhoff, M.: Forensische Alkohologie und Toxikologie, Kapitel 13.1.5. In: Rechtsmedizin. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg 2019.

[15] Dettmeyer, R., Veit, F., Verhoff, M.: Forensische Alkohologie und Toxikologie, Kapitel 13.1.6. In: Rechtsmedizin. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg 2019.

[16] Verfasser:        Christian Lederer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei HLB Schumacher Hallermann

Supervision:        Dr. Lennart Brüggemann, Rechtsanwalt & Partner bei HLB Schumacher Hallermann

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