Entscheidung des Monats Oktober 2022

Gutgläubiger Erwerb - Mobiliarsachenrecht

Hinweis vom HLB-Team: Wenn in einem Gerichtsurteil ein Sachenrechtsklassiker auf einen Fall rund um „des Deutschen liebstes Kind“ – das Auto – trifft, dann ist das in etwa so bedeutungsvoll für das (erste) juristische Staatsexamen wie, na ja, das Auto für die deutsche Wirtschaft. In diesem Oktober möchten wir uns daher mit einem brandaktuellen Fall auseinandersetzen, der sich im Kern mit dem gutgläubigen Erwerb eines Audi Q5 vom Nichtberechtigten und einer „unendlichen Probefahrt“[1] befasst. In diesem Sinne also Abfahrt!

Das Oberlandesgericht Celle entschied mit Urteil vom 12.10.2022 (Az. 7 U 974/21) über die Wirksamkeit der Übereignung eines Audi Q5, welcher zuvor dem ursprünglichen Eigentümer, einem Autohaus in Niedersachsen, im Rahmen einer unbegleiteten Probefahrt vom vermeintlichen Interessenten entwendet worden war.

Der gutgläubige Erwerb gem. §§ 932 ff. BGB kann Euch im Examen in verschiedensten Gewändern begegnen, ob – wie hier – gepaart mit deliktischem Verhalten, ob in erbrechtlichem Kontext oder im Zusammenhang mit dem Immobiliarsachenrecht. Wir wollen Euch daher wie gewohnt zum Ende dieser Besprechung die notwendige dogmatische Kompetenz zur Hand reichen, sodass Ihr in allen Situationen und Konstellationen die Ruhe bewahren könnt. Für die Referendare unter Euch unternehmen wir ebenso einen kleinen Exkurs zur Darlegungs- und Beweislast, welche in derlei Konstellationen in der Praxis häufig den meisten Stoff zur Diskussion bieten.

Die Hintergründe der Entscheidung

Als wäre die aktuelle Lage des Gebrauchtwagenmarktes nicht bereits schlimm genug – sinkender Bestand an Fahrzeugen, Preise, die in den Himmel steigen und Händler, die nur noch mit zunehmender Mühe an Nachschub kommen. Wird der vorhandene Flottenbestand nun auch noch durch Probefahrer gemindert, die eigenmächtig den Privatverkauf des zu testenden Fahrzeugs unternehmen, dann wird es eng für den deutschen Autoverkäufer.

So geschehen zulasten eines Autohauses in Niedersachsen: Nachdem ein vermeintlicher Kaufinteressent dort eines Nachmittags großes Interesse an einem gebrauchten Audi Q5 bekundete, übergab das geschäftige Autohaus den polierten SUV zwecks Probefahrt an den zuvorkommenden Herrn, der im Gegenzug falsche Personalien angegeben hatte. In dem Fahrzeug waren zwei Sim-Karten verbaut, die eine Ortung durch die Polizei mit Unterstützung der Herstellerin grundsätzlich ermöglichen.[2] Insoweit unterschied sich der Fall auch materiell zur bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung.[3] Das Fahrzeug schien dem Interessenten schließlich so sehr zu gefallen, dass er von der einstündigen, unbegleiteten Probefahrt mit dem lokalisierbaren Auto nicht mehr wiederkam.

Der Audi tauchte wenig später auf eBay wieder auf und zwar für einen Kaufpreis von 31.000 €, „Garantie wegen Privatverkaufs ausgeschlossen[4]. Dass dieser Coup seine Makel hat, wird auch jenen klar, die nicht Danny Ocean heißen. Nachdem ein eBay-Käufer den Kaufpreis in bar (!) an die Frau des „Betrügers“ übergab – diese hatte ihm zuvor die professionell-gefälschten Fahrzeugpapiere mitsamt Schlüssel übergeben – flog der Schwindel auf. Der Käufer übergab das Fahrzeug zwei Wochen später der Polizei, die es dem Autohaus zurückgab. Letzteres verkaufte es anschließend, knappe zwei Monate nach dem Wiedererhalt, für 35.000 € an einen Dritten. Der getäuschte eBay-Käufer und Kläger verlangte nun diesen Erlös von dem beklagten Autohaus heraus.

Für einen solchen Anspruch auf Herausgabe des Veräußerungserlöses aus § 816 Abs. 1 Satz 1 BGB hätte eine entgeltliche Verfügung durch einen Nichtberechtigten getroffen werden müssen, die dem Berechtigten gegenüber wirksam ist. Unser Käufer hätte vorab also wirksam gegenüber dem Autohaus Eigentum am Audi erlangt haben müssen und das Autohaus hätte danach ohne Berechtigung über diesen Audi verfügen müssen.

Die Entscheidung

In unserer Entscheidung bejahte das Gericht einen Anspruch des Klägers gegen das Autohaus in Höhe des Weiterveräußerungspreises an den Dritten abzüglich der enthaltenen Umsatzsteuer (30.172,41 €).[5] Hinsichtlich letzterer kann sich die Beklagte auf die rechtsvernichtende Einwendung[6] der Entreicherung (§ 818 III BGB) berufen. Hinzu kommen noch Zinsen gem. §§ 288, 286 I 2 bzw. § 291 BGB. Gehen wir im Folgenden die Prüfungsschritte einmal gemeinsam durch.

In seiner Berufungsentscheidung geht der 7. Zivilsenat des OLG Celle zunächst auf prozessuale Fragen der richterlichen Beweiswürdigung und parteilichen Darlegungspflichten ein.[7] Es bejaht eine einwandfreie, erstinstanzliche Tatsachenwürdigung durch das Landgericht Hannover (Az: 11 O 13/21) nach den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung[8]. Es betont dabei die Zulässigkeit von Indizienbeweisen zur Entscheidungsbildung.[9] Diese seien dann überzeugungskräftig, wenn andere Schlüsse aus den Indiztatsachen ernstlich nicht in Betracht kommen.[10] In den Berufungsgründen ging es insbesondere um die Darlegungen des Klägers in der ersten Instanz hinsichtlich seiner Eigentümerposition: das OLG Celle bestätigt hier in einem ersten Schritt die wirksame Übergabe und Übereignung des Audi durch den Probefahrer auf den Kläger gem. §§ 932 I, 929 Satz 1 BGB und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Gutgläubigkeit des Klägers zum Zeitpunkt der ersten Audi-Veräußerung durch den Probefahrer. Über dieses Eigentum des Klägers könnte die Beklagte nun in einem zweiten Schritt als Nichtberechtigte entgeltlich und dem Kläger gegenüber wirksam (vgl. Vs. des § 816 I 1 BGB) verfügt haben, indem sie den Audi nach Wiedererhalt an einen Dritten für 35.000 € weiterverkaufte (= zweite Audi-Veräußerung). Wäre dem so, stünde dem Kläger der in Rede stehende Anspruch auf Herausgabe des Verkaufserlös gem. § 816 I 1 BGB zu.

Widmen wir uns zunächst dem ersten Punkt: Um Klarheit hinsichtlich der Eigentumslage hinsichtlich des Audi zu schaffen, erläutert das Gericht in seiner Entscheidung materiell erst einmal die Besitzverhältnisse. Anhand des Gesetzes gut nachvollziehbar und der dem Sachenrecht inhärenten klaren Struktur folgend, erläuterte es, wann unmittelbarer Besitz an einer Sache erworben wird: Gem. § 854 I BGB nämlich durch die tatsächliche Gewalt über die Sache, bemessen nach der Verkehrsanschauung. Dies ist wichtig zu wissen, denn nur wenn der Probefahrer den Besitz tatsächlich erwarb, jener des Autohauses also freiwillig von diesem gebrochen wurde, ist die Sache nicht abhandengekommen und der Anwendungsbereich der §§ 932-934 BGB eröffnet. Bei einem KFZ sei dabei i.d.R. auf die Sachherrschaft über die Fahrzeugschlüssel abzustellen. Eine Schlüsselübergabe bewirkt dabei nur dann einen Besitzübergang, wenn der Übergeber die tatsächliche Gewalt an der Sache willentlich und erkennbar aufgegeben und der Empfänger des Schlüssels sie in gleicher Weise erlangt hat. Daran mangelt es zwar bei einer „Hier, schauen Sie sich gerne mal den Kofferraum an“-Übergabe. Im Falle unseres unlauteren Probefahrers mit widrigem Geschäftssinn ist die Überlassung des Audi durch den Verkäufer zu einer einstündigen Probefahrt auf öffentlichen Straßen jedoch gerade keine eine solche bloße Besitzlockerung, sondern führt zu einem freiwilligen Besitzverlust.[11] Dies lege in den Umständen der Probefahrt begründet: Sie war unbegleitet und auch nicht durch technische Vorrichtungen, die einer Begleitung vergleichbar sind, gesichert. Insbesondere seien die im Audi verbauten SIM-Ortungschips nicht mit einer Begleitung vergleichbar, da eine Ortung aufwendig, zeitlich verzögert und nur in Zusammenarbeit mit Polizei und Fahrzeugherstellerin möglich sei. Das Gericht führt die Regelung des § 859 II BGB (lesen!)[12] an, die bestätige, dass weder die Betroffenheit auf frischer Tat noch die Verfolgung des Täters den Besitzverlust verhindere. Und die Ortungsmöglichkeit im Audi ginge darüber mitnichten hinaus.

An der Gutgläubigkeit des Klägers (§ 932 II BGB) bestünden ferner keine Zweifel. Zwar begründe der Besitz des Fahrzeugs allein noch nicht den für den Gutglaubenserwerb nach § 932 BGB erforderlichen Rechtsschein.[13] Vielmehr gehöre es regelmäßig zu den Mindesterfordernissen für einen gutgläubigen Erwerb eines gebrauchten Kraftfahrzeugs, dass sich der Erwerber den Kraftfahrzeugbrief (§ 25 Abs. 4 Satz 2 StVZO aF) bzw. die Zulassungsbescheinigung Teil II (§ 12 Abs. 6 FZV) vorlegen lässt, um die Berechtigung des Veräußerers zu prüfen.[14] Nachforschungspflichten, die darüber hinausgehen, bestünden regelmäßig jedoch nicht, außer sie drängen sich dem Betrachter förmlich auf.[15] Die Rechtsprechung stellt hier hohe Anforderungen an eine Fahrlässigkeit: selbst eine Reihe von Unstimmigkeiten (Abweichen der Anschrift der Verkäuferin in dem Personalausweis von den Anschriften in Kaufvertrag und Fahrzeugpapieren sowie in dem Inserat; Stempel von zwei Gemeinden in der Zulassungsbescheinigung Teil I; Fehlen des zweiten Fahrzeugschlüssels; Barkauf in einer Straße, die weder der in dem Inserat noch der in dem Personalausweis genannten Straße entsprach) – soweit sie denn halbwegs plausibel erklärt wurden und dies vom Kläger dargelegt werden kann – reichten nicht aus um grobe Fahrlässigkeit des Klägers anzunehmen und folglich einen guten Glauben auszuschließen.[16] Das Verlangen nach Barzahlung sei im Gebrauchtwagenhandel indes nicht unüblich.[17]

Bei der konkreten Prüfung des § 816 I 1 BGB ist es wichtig, sich immer wieder klarzumachen, hinsichtlich welcher Veräußerung, welche Voraussetzungen vorliegen müssen. Prüft das Gericht die Gutgläubigkeit des Klägers, stellt es auf die chronologisch erste (unberechtigte) Veräußerung des Audi ab. Der § 816 I 1 BGB verlangt nun , dass im Moment der zweiten Veräußerung des Audi (nach Rückgabe durch die Polizei) durch das Autohaus an den (seinerseits gutgläubig erwerbenden) Dritten das Autohaus selbst Nichtberechtigte war. Diese Voraussetzung ist gegeben.[18] Inhaber der Verfügungsbefugnis ist i.d.R. der Inhaber des entsprechenden Vollrechts,[19] vorliegend also der Kläger in der Eigenschaft als wahrer Eigentümer, da dieser zuvor wirksam das Eigentum an dem Audi vom Probefahrer erworben hatte. Wirksam wurde diese Verfügung durch das nichtberechtigte Autohaus gegenüber dem berechtigtet Kläger, da der Dritte seinerseits gem. § 932 I 1 BGB gutgläubig erwarb (Schulfall des gutgläubigen Erwerbs).

Die Entscheidung im Volltext finden Sie hier.

 

Dogmatische Vertiefung

Darlegungs- und Beweislast

Anhand der Oktober-Entscheidung ist gut nachvollziehbar, dass in der Realität die Frage, ob eine Sache gutgläubig erworben wurde, immer wieder eine solche der Beweiswürdigung ist. Grundsätzlich hat im Zivilverfahren jeder das darzulegen und zu beweisen, was günstig für ihn ist. Der Anspruchssteller trägt also grundsätzlich die Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale der Anspruchsgrundlage (z.B. Vorlegen eines anspruchsbegründenden Kaufvertrags, Beweisen der Eigentümerposition). Hingegen obliegt es dem Anspruchsgegner das Vorliegen von Einwendungen oder Einreden zu beweisen. Folgerichtig trifft die Beweislast dafür, dass der Erwerber nicht in gutem Glauben war, den früheren Eigentümer, der sich darauf beruft.[20] Allerdings trifft den Erwerber, der sich auf den gutgläubigen Erwerb beruft, regelmäßig eine sog. sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Vorlage und Prüfung der Zulassungsbescheinigung Teil II. Er muss also seinerseits vortragen, wann, wo und durch wen ihm die Bescheinigung vorgelegt worden ist und dass er sie überprüft hat.[21]

Gutgläubiger Erwerb

Wenn es nun materiell um den gutgläubigen Erwerb geht, erinnern wir uns zunächst daran, dass grds. nur der Eigentümer wirksam über eine Sache verfügen kann, § 929 1 BGB. Verfügung meint dabei jede Aufhebung, Übertragung, Belastung und Inhaltsänderung einer Rechtsposition.

Unter den Voraussetzungen des gutgläubigen Erwerbs gem. §§ 932 -934 BGB kann jedoch auch der Nichtverfügungsberechtige dem gutgläubigen und besonnenen Käufer (vgl. § 932 II BGB) das Eigentum verschaffen. Dieses die Rechtssicherheit wahrende Institut findet wiederum in solchen Fällen seine Schranken, in denen die Sache dem ursprünglichen Eigentümer „gestohlen worden, verloren gegangen oder sonst abhanden gekommen war“, § 935 I 1 BGB. Ein gutgläubiger Erwerb scheidet kurzum also immer dann aus, wenn

  1. a) der Erwerber nicht in gutem Glauben ist (§ 932 BGB); dem steht gem. § 932 Abs. 2 Var. 2 BGB gleich, wenn er grob fahrlässig verkannte, dass der Veräußerer nicht Eigentümer der Sache war[22] oder wenn
  2. b) der Besitz des Eigentümers unfreiwillig aufgegeben wurde, § 935 BGB („abhandengekommen“); beachte: eine bloße Besitzlockerung[23] schließt eine Unfreiwilligkeit dabei nicht aus! Daran fehlt es, wenn er durch Täuschung zu der Besitzaufgabe bestimmt worden ist.[24]

Besitz

Die Rechtsnatur des Besitzes gehört historisch zu den meistumstrittenen Fragen der Literatur und Dogmatik. Der Besitz ist kein Recht, sondern ein tatsächliches Verhältnis, das im Interesse des Rechtsfriedens nicht unerheblichen Schutz genießt. Der Besitz ist den Rechten jedoch weitgehend gleichgestellt: Der berechtigte Besitz kann kondiziert werden (als „vermögenswertes Etwas“, § 812 I BGB), sein Verlust kann (unter Subsumtion als „sonstiges Recht“, welches vergleichbar mit dem Eigentumsrecht sein muss) zu Schadensersatz (§ 823 I BGB) führen.

Klassischerweise wird zwischen verschiedenen Formen des Besitzes unterschieden:

  1. Der unmittelbare Besitz (§ 854 I BGB): Die vom natürlichen Besitzwillen getragene und von der Verkehrsanschauung erkennbare tatsächliche Sachherrschaft, wobei der Besitzdiener (§ 855 BGB – soziale Abhängigkeit / Weisungsgebundenheit) trotz Sachherrschaft keinen Besitz im Rechtssinne innehat.
  2. Der mittelbare Besitz (§ 868 BGB – Besitzmittlungsverhältnis): Wenn ein (eben nur noch mittelbarer) Besitzer die tatsächliche Herrschaft über eine Sache durch einen unmittelbaren Besitzmittler ausüben lässt. Dies geschieht i.d.R. mittels konkreten schuld- oder sachenrechtlichen Rechtsverhältnisses. Gegen den (unmittelbaren) Besitzer kann ein Herausgabeanspruch bestehen. Bei der Miete ist bspw. der Mieter Besitzmittler und unmittelbarer Besitzer, der Vermieter aber mittelbarer Besitzer. Der (unmittelbare) Besitzer besitzt für einen anderen (Fremdbesitzerwille).
  • Bedeutung hat der mittelbare Besitz für bestimmte Formen des Eigentumserwerbs (§§ 930 f. BGB: beim Eigentumsvorbehalt oder beim Sicherungseigentum, welches nur mit Hilfe eines Besitzmittlungsverhältnisses übertragen werden kann;
  • Mittelbarer Besitz wird übertragen gem. § 870 BGB durch Abtretung des Herausgabeanspruchs (gem. § 398 BGB).
  • Fremd– bzw. Eigenbesitz (§ 872 BGB) hängt von der Willensrichtung des Besitzers ab.
  • Allein– und Mitbesitz: Mitbesitz ist die gleichstufige Beteiligung an unmittelbarem oder mittelbarem Besitz.

Besitzlockerung

Die Besitzlockerung bezeichnet den Zustand, dass der Besitzer gerade nicht tatsächliche Sachherrschaft ausübt, jedoch trotzdem noch Besitzwillen hinsichtlich der Sache hegt. Denken wir z.B. an die vor eurer Wohnung abgestellte und abgeschlossene Leeze.

Besitzschutz

Neben den obengenannten allgemeinen Vorschriften §§ 823 I, 812 I BGB kennt das Gesetz weitere Vorschriften zum Besitzschutz. In der sachenrechtlichen Klausur prüfen wir immer erst Ansprüche aus dem stärkeren Eigentumsrecht (EBV) und danach – bei entsprechender Notwendigkeit – jene aus Besitz(-recht).

Die sog. Selbsthilferechte nach §§ 859, 860 BGB, die an den Besitz knüpfen, dienen primär der unmittelbaren Abwehr von Besitzstörung und Besitzentziehung. Man nennt sie daher auch „Besitzwehr“ (Abs. 1), bzw. „Besitzkehr“ (Abs. 2). Anspruchsberechtigt sind grds. der unmittelbare Besitzer sowie der Besitzdiener. Ob sich auch der mittelbare Besitzer auf § 859 BGB berufen darf ist umstritten (hM: Nein, vgl. Wortlaut).

Von Bedeutung ist ferner der possessorische Besitzschutz, der §§ 861, 862, 863; lat.: possessio = Besitz bzw. possessor = Besitzer).[25] Dieser knüpft sich ebenfalls an das bloße „Haben“ der Sache, ohne (im Regelfall) nach der Berechtigung zum Besitz zu fragen. Er schützt vor verbotener Eigenmacht, § 858 I BGB. Ein enger zeitlicher Rahmen (Anspruchsgegner muss „auf frischer Tat betroffen“, „verfolgt“ werden)[26] wird vorausgesetzt. Die Ansprüche stehen dem Besitzer also nur deshalb zu, weil er die Sache hat, sodass der Rechtsfriede (möglichst schnell) gewahrt wird. Sie sind denklogisch vor den ans Recht zum Besitz knüpfenden Ansprüchen zu prüfen.

  • A nimmt dem B ein Fahrrad weg, weil er – was zutrifft – glaubt, der wahre Eigentümer zu sein. Diese Einwendung kann A gegen den Anspruch des B aus § 861BGB grundsätzlich nicht geltend machen, da sie nur das Recht an der Sache betrifft, und seine Tat trotzdem verbotene Eigenmacht i.S.v. § 858 BGB bleibt (A hätte den B stattdessen auf Herausgabe verklagen müssen).

Daneben existiert der petitorische Besitzschutz (§ 1007 BGB; lat.: petitio = Anspruch), der sich an das Recht zum Besitz knüpft: Der petitorische Anspruch leitet sich also nicht schon aus dem faktischen Besitz selbst, sondern erst aus dem Besitzrecht/-anspruch ab (z.B. Rechtsverhältnis aus Schuld- oder Sachenrecht). Die Anspruchsgrundlagen des § 1007 BGB sind dabei streng voneinander zu trennen. Gem. § 1007 III 2 BGB sind die EBV-Regelungen entsprechend anwendbar: Dies begründet ein der Vindikationslage entsprechendes Rechtsverhältnis, weshalb – im Gegensatz zum possessorischen Anspruch aus § 861 BGB – z.B. ein Recht zum Besitz (§ 986 BGB) eingewendet werden kann. Jedoch ist zu beachten, dass sich der Anspruch aus den Regeln über das EBV infolge der Verweisung durch § 1007 III 2 BGB lediglich auf den Besitz stützt, sodass gezogene Nutzungen nicht zu übereignen, sondern nur zu Besitz herauszugeben sind. Ebenso beschränkt sich der Schadensersatzanspruch aus §§ 989, 990 nach h.M. auf das Besitzinteresse.

  1. Anspruch aus besserem Recht zum Besitz, § 1007 I, III BGB
  2. Anspruch bei Abhandenkommen der Sache, § 1007 II, III BGB

Wir halten fest, dass im Sachenrecht die bloße Gesetzeslektüre sowie das Verständnis der Systematik und des Verhältnisses zwischen Eigentum und Besitz und Besitzrecht ausreichen, um sauber durch die kompliziertesten Fälle zu kommen. Wichtig ist, das Gesetz immer wieder zu Rate zu ziehen, sich aller möglichen AGL bewusst zu sein (schreibt euch diese stets skizzenartig in der richtigen Reihenfolge auf) und bei aller notwendigen Ruhe die Normen „abzuarbeiten“.[27]

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[1] BGH-Klassiker: BGH, Urteil vom 18.09.2020 – V ZR 8/19, NJW 2020, 3711.

Zur Vertiefung empfohlen: https://examensgerecht.de/die-unendliche-probefahrt/ (est: 29.10.22)

[2] OLG Celle, Urteil vom 12.10.2022, 7 U 974/21, Rn. 1.

[3] BGH, Urteil vom 18.09.2020 (Az.: V ZR 8/19) zum „Abhandenkommen“ des mit der Probefahrt entwendeten Fahrzeugs.

[4] Eine von vielen unsinnigen Privatverkaufsklauseln, die auf Gebrauchtwaren-Portalen kursieren. Gängig ist auch etwa die alte Mär vom „neuen EU-Recht“, wonach „keine Rücknahme oder Umtausch gewährt werden kann“. Faktisch müssen sich in der Realität allerdings auch Privatverkäufer an das Gesetz halten und werden bei unklaren oder missverständlichen Floskeln von der vollen Härte der gesetzlichen Haftung getroffen.

Fyi: Mit der Kaufrechtsreform 2022 wurde die (ausschließbare) Sachmangelhaftung sogar leicht verschärft – auch hinsichtlich Privatverkäufer: Die Kaufsache muss sich objektiv für ihre gewöhnliche Verwendung eignen und die übliche Beschaffenheit aufweisen. Den Artikel und die Verwendbarkeit genau zu beschreiben, kann hier helfen, Haftungsfällen vorzubeugen.

[5] OLG Celle, Urteil vom 12.10.2022, 7 U 974/21, Tenor.

[6] Fyi: = solche Rechte, die einen bereits entstandenen Anspruch wieder zum Erlöschen bringen.

[7] OLG Celle, Urteil vom 12.10.2022, 7 U 974/21, Rn. 14, 17, 18.

[8] Fyi: Vgl. § 286 ZPO und § 261 StPO: In der Beweiswürdigung bildet sich das Gericht die Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit einer (behaupteten) Tatsache. Hierbei hat es unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine Tatsache bewiesen oder nicht bewiesen ist. Nur soweit gesetzliche Vermutungen und Beweisregeln in der zu entscheidenden Angelegenheit eingreifen, ist das Gericht daran gebunden.

[9] OLG Celle, Urteil vom 12.10.2022, 7 U 974/21, Rn. 18, 19.

[10] vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2016 – VI ZR 163/14, juris Rn. 15.

[11] OLG Celle, Urteil vom 12.10.2022, 7 U 974/21, Rn. 24-27.

[12] Fyi: n.b. die Legaldefinition des § 858 I BGB; grds. immer die zwei Normen drüber und drunter lesen. Jeder Besitz, der durch die „verbotene Eigenmacht“ zustande gekommen ist, wird als „fehlerhafter Besitz“ bezeichnet, § 858 II 1 BGB.

[13] OLG Celle, Urteil vom 12.10.2022, 7 U 974/21, Rn. 34 f.

[14] vgl. BGH, Urteil vom 18.09.2020 – V ZR 8/19, Rn. 29 juris.

[15] vgl. BGH, Urteil vom 1. März 2013 – V ZR 92/12, juris Rn. 14, vgl. BGH, Urteil vom 18.09.2020 – V ZR 8/19, Rn. 29 juris.

[16] Lesenswert: Ausführungen OLG Celle, Urteil vom 12.10.2022, 7 U 974/21, Rn. 38 ff.

[17] OLG Celle, Urteil vom 12.10.2022, 7 U 974/21, Rn. 46.

[18] OLG Celle, Urteil vom 12.10.2022, 7 U 974/21, Rn. 49.

[19] Fyi: Abweichungen können sich jedoch z.B. durch eine Übertragung der Verfügungsbefugnis kraft Ermächtigung (sog. Einwilligung, § 185 I BGB) oder kraft Gesetz (z.B. §§ 80 I 1, 81 I 1 InsO, §§ 1984 I, 2211 BGB) ergeben.

[20] Vgl. BGH, Urteil vom 13.05.1958 – VIII ZR 432/56, BeckRS 1958, 31196562 unter III; Urteil vom 5.10.1981 – VIII ZR 235/80, Rn. 12 juris.

[21] OLG Celle 7. Zivilsenat, Urteil vom 12.10.2022, 7 U 974/21, Rn. 35.

[22] Fyi: ein Handeln also, „bei dem die erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich großem Maße verletzt worden ist und bei dem dasjenige unbeachtet geblieben ist, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen“, RGZ 141, 129 ff [131]; 163, 104 ff [106]; 166, 98 ff [101].

Das Gericht fragt also, ob es den Umständen des Falles „auf die Stirn geschrieben“ ist, dass die notwendige Sorgfalt unterschritten wurde und „ob schon einfachste und ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt wurden“, BGH VersR 59, 223, 66, 1150.

[23] Vgl. zur Besitzlockerung bei einer Probefahrt: BGH-Urteil vom 17.03.2017 (V ZR 70/16).

[24] Vgl. BGH, Urteil vom 18.09.2020 – V ZR 8/19, juris Rn. 9.

[25] Fyi: Die §§ 861, 862 BGB bilden selten den Kerngegenstand einer Klausur, sind aber häufig als „Nebenansprüche“ insbesondere neben Ansprüchen aus dem EBV zu prüfen und werden dann gerne vergessen. Es empfiehlt sich also z.B. – soweit es die jeweilige Prüfungsordnung erlaubt – neben den § 985 BGB den § 861 BGB zu notieren.

[26] Fyi: Der Anspruchsgegner darf gegenüber den Ansprüchen aus §§ 861, 862 BGB nur Einwendungen geltend machen, die darlegen, dass die Besitzstörung keine verbotene Eigenmacht i.S.v. § 858 BGB war (sog. possessorische Einwendungen). Abgeschnitten sind ihm grundsätzlich die Einwendungen, die sich auf das Recht an der Sache beziehen (sog. petitorische Einwendungen). In der Praxis wird dieses Ergebnis aber dadurch abgemildert, dass der Besitzstörer, dem die Sache selbst gehört, gegen die Herausgabeklage des Besitzers aus § 861 BGB eine sog. petitorische Widerklage gem. § 864 II BGB erheben kann, d.h. eine Klage auf Feststellung, dass er ein Recht zum Besitz hat. Im Endeffekt dringt der Kläger mit seinem Herausgabeanspruch also doch nicht gegen den wahren Eigentümer durch.

[27]

Verfasser:            Christian Lederer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei HLB Schumacher Hallermann.

Supervision:       Dr. Lennart Brüggemann, Rechtsanwalt bei HLB Schumacher Hallermann.

 

 

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