Entscheidung des Monats September 2024
Zivilrecht: Die communis falsa demonstratio im Grundstücksrecht – Grundlagen in neuem Gewand (BGB AT)
Hinweis vom HLB-Team: „Wer hohe Türme bauen will, muß lange beim Fundament verweilen“. Was nach Architektur klingen mag, tatsächlich aber vom österreichischen Komponisten Anton Bruckner (*1824) in Bezug auf die Musik gesagt wurde, das kann auch noch 200 Jahre nach seiner Geburt auf die hohe Kunst der Juristerei übertragen werden. Letztlich ist auch das juristische Gutachten nichts anderes als eine Sinfonie der rechtswissenschaftlichen Methodik: Sie beginnt mit dem Adagio („bequem“, „behaglich“), indem zum Einstieg in die Prüfung zunächst der rechtliche Rahmen abgesteckt wird und die Grundvoraussetzungen des Untersuchungsgegenstandes (z.B. Entstehen eines Anspruchs, Wirksamkeit einer Kündigung, Erfolgsaussichten einer Klage usw.) mittels Obersatz benannt werden; sie nimmt Fahrt auf im Allegro („lebhaft“, „heiter“), wenn Studierende die Rechtsprobleme und Schwerpunkte des Sachverhaltes beim Namen nennen, anhand von „Wirknormen“ (Lorenz) strukturiert aufdröseln und wohl-argumentierend vertretbar zu einem harmonischen Ausklang bringen; im letzten Satz, dem Presto („schnell“) „taucht“ der Gutachter wieder auf, „macht die Schubladen zu“ und hält sein Ergebnis fest. Letzterer Satz wird bei dem ein oder anderen zugegeben zum „Prestissimo“, wenn sich die Bearbeitungszeit dem Ende nähert.
Zum juristischen Fundament des Zivilrechts zählen allem voran insbesondere jene Lerninhalte, die der Allgemeine Teil des BGB überliefert (Lehre von der Willenserklärung und des Rechtsgeschäfts, Willensmängel- & Stellvertretungsrecht). Der Willenserklärung als maßgeblich rechtsgestaltendem Medium kommt dabei besondere Bedeutung zu. Ihre Auslegung, d.h. die Ermittlung ihrer Bedeutung unter umfassender Würdigung aller Umstände und Willen der Beteiligten, beschäftigt den Studierenden von der ersten Vorlesung an bis zum Einstieg ins Berufsleben, egal ob im Rahmen von Verpflichtungs- oder Verfügungsgeschäften, ob im Rahmen der Erklärung von Gestaltungsrechten oder der Berufung auf Einreden. Dabei kann es im Einzelfall vorkommen, dass das Erklärte und das Verstandene bzw. das Erklärte und der wahre Wille des Erklärenden auseinanderfallen (Erklärungs- & Willensmangel).
Kommen derlei Mängel im Zuge eines Grundstückskaufs (§§ 433, 311b BGB) zum Tragen, so kann das kostspielige Folgen haben. Bis zur letzten Instanz zog es einen Kläger, der sich von einem Grundstückskaufvertrag lösen wollte (BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22). Entscheidungserheblich waren schließlich die Erkenntnisse des berüchtigten Haakjöringsköd-Falles. Klingelt es? „Innerlich erwählten sie den Walfisch, doch gemeinsam bezeichneten sie den ‚Haifisch‘. Butter bei die Fische im Gewässer, entpuppten sich die Fische in den Fässern, die sie fälschlich als ‚Walfisch‘ bedachten hier als fässerweise Selachier“.
Die Hintergründe der Entscheidung
Verfahrensgegenstand vor dem Bundesgerichtshof[1] war ein Revisionsverfahren in einem Streit über einen Grundstückskauf. Mit notariellem Vertrag vom 09.12.2009 verkaufte die Beklagte der Klägerin im Anschluss an einen Besichtigungstermin ein Grundstück inklusive Wohnhaus für einen Kaufpreis i.H.v. 270.000 EUR. Im Kaufvertrag wurde der Kaufgegenstand mit den Worten „Grundstück Flst. 291/3“ festgehalten. Die Klägerin ging irrtümlich davon aus, dass auch das unmittelbar angrenzende Flurstück 277/22 der Flur 13 der Gemarkung … mit einer Größe von 19 m² mitveräußert worden sei.[2] Tatsächlich steht dieses – den tatsächlichen Verhältnissen vor Ort nach scheinbar eine Einheit mit dem Kaufgegenstand bildende – Flurstück jedoch im Eigentum eines Dritten, der es von den unmittelbar besitzenden Klägern zurückfordert.
Die Kläger begehrten in der Folge die Rückabwicklung des Kaufvertrags sowie die Feststellung, dass die Beklagten sie von allen aus der Rückabwicklung resultierenden Schäden freistellen. Das Landgericht Oldenburg wies die Klage am 17.11.2021 ab. Die Berufung der Klägerin wurde am 29.04.2022 vom Oberlandesgericht Oldenburg zurückgewiesen. Auch die Revision der Klägerin vor dem BGH hatte keinen Erfolg.
Die Entscheidung
A. Ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Rückabwicklung des Kaufvertrages könnte sich zunächst aus einem Rückabwicklungsschuldverhältnis infolge kaufrechtlicher Gewährleistung gem. §§ 437 Nr. 2 Alt. 1 i.V.m. §§ 346 Abs. 1 Alt. 2, 434 BGB ergeben. Hierfür müsste die Sache mangelhaft i.S.d. § 434 BGB sein.
Hinweis: Anwendbarkeit des Kaufrechts auf Grundstücke und Häuser
Ob es sich indes bei dem Kaufgegenstand um eine bewegliche Sache oder eine Immobilie handelt, ist für die Anwendbarkeit des Kaufrechts ohne Belang. Der einschlägige Sachbegriff des § 90 BGB verlangt nur die „Körperlichkeit“ des Kaufgegenstandes (= solche Gegenstände, die zumindest sinnlich wahrnehmbar und technisch beherrschbar sind[3]). Gleichwohl gilt es im Einzelfall präzise zu zitieren: Wird ein Vertrag über ein noch zu errichtendes Haus geschlossen, so handelt es sich um einen Verbraucherbauvertrag (vgl. § 650i Abs. 1 BGB). Das Kaufrecht findet dann über § 650i Abs. 3 i.V.m. § 650u Abs. 1 S. 3 BGB Anwendung. |
Die Mangelhaftigkeit setzt voraus, dass das „Grundstück Flst. 291/3“ bei Gefahrübergang nicht den subjektiven Anforderungen, den objektiven Anforderungen und den Montageanforderungen[4] entspricht, § 434 Abs. 1 BGB.
Indem die Parteien in § 1 des Kaufvertrages den Kaufgegenstand als „Grundstück Flst. 291/3“ bezeichnet haben, könnten sie eine positive Beschaffenheitsvereinbarung ob der Zugehörigkeit des Nachbarflurstücks „Flst. 277/22“ zum erworbenen Flurstück getroffen haben. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass es – abseits besonderer Umstände im Einzelfall[5] – zu der Beschaffenheit eines Grundstücks gehört, dass es sich auf ein Nachbargrundstück erstreckt.[6] Vielmehr würde eine solche Vereinbarung den Kaufgegenstand selbst festlegen (als essentiale negotii) und nicht lediglich dessen Beschaffenheit als Nebenabrede des Vertrages (accidentale negotii) konkretisieren.[7]
Das Grundstück war mithin frei von Sachmängeln; ein Anspruch der Klägerin aus Kaufgewährleistungsrecht scheidet aus.
Hinweis: Flurstücke
Ist das Schicksal eines Grundstücks juristisch zu beurteilen, so ist Wissen um die Natur von Flurstücken von Vorteil.[8] Ein Flurstück ist ein geometrisch festgelegter Teil der Erdoberfläche, der amtlich vermessen wurde. Im Sachenrecht entspricht ein Flurstück i.d.R. einem Grundstück; es kommt jedoch auch vor, dass ein Grundstück aus mehreren Flurstücken besteht (niemals umgekehrt!). Flurstücke werden auf einer Flurkarte des Katasteramtes dargestellt und sind häufig online, auf den Geoportalen der Bundesländer abrufbar (für NRW: „TIM-online“). In Deutschland ist ein Flurstück die kleinste Buchungseinheit (vor „Fluren“ und „Gemarkungen“) im Liegenschaftskataster. Zwecks Sortierung wird es vom Amt mit einer Flurstücknummer versehen. Das Liegenschaftskataster ist dabei streng vom Grundbuch zu unterscheiden. |
B. Ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Rückabwicklung könnte sich jedoch aus §§ 346 Abs. 1 Alt. 1, 326 Abs. 5, 323 Abs. 5 S. 1BGB ergeben, wenn die Parteien sich auf den Verkauf eines Grundstücks geeinigt hätten, das sowohl das Flst. 291/3 als auch das Flst. 277/22 umfasste, die Beklagte aber nur eine Teilleistung erbracht hat.[9]
I. Gegenseitiger Vertrag, 323 Abs. 1 BGB
- Einigung, § 145 ff. BGB
Ein gegenseitiger Vertrag liegt hier in Gestalt des Grundstückkaufvertrages i.S.d. § 433 BGB vor. Insoweit die Klägerin anführt, dass die Parteien den Kaufgegenstand in dem notariellen Kaufvertrag nur versehentlich falsch bezeichnet haben, ist allein der inhaltliche Umfang der Einigung fraglich.[10] Dieser Inhalt ist mittels Auslegung zu bestimmen, §§ 133, 157 BGB.[11]
a. Dem Wortlaut der Vertragsurkunde nach, einigten sich Klägerin und Beklagte in § 1 des Kaufvertrages ausdrücklich über die Veräußerung des „Grundstück Flst. 291/3“. Dieser Wortlaut wirft für sich genommen zunächst kaum Zweifel auf.
b. Im Lichte der Formbedürftigkeit des vorliegenden Grundstückkaufvertrages (§ 311b Abs. 1 S. 1 BGB) könnten jedoch nach st. Rspr. des BGH auch solche, außerhalb der Urkunde liegende Umstände herangezogen werden (z.B. ein Ortstermin).[12]
#Definition Andeutungsformel des BGH
Zuweilen ist auch der ausdrückliche Wortlaut einer Urkunde unklar. Der Notwendigkeit auch außerhalb der Urkunde liegende, zur Erforschung des Vertragsinhalts geeignete Umstände heranzuziehen, trägt die für die Auslegung von beurkundeten Willenserklärungen entwickelte sogenannte Andeutungsformel Rechnung: Ihzufolge sind auch Urkunden über formbedürftige Rechtsgeschäfte nach allgemeinen Grundsätzen auszulegen. Dabei dürfen – um den Schutzfunktionen der Formpflichtigkeit gerecht zu werden – außerhalb der Urkunde liegende Umstände nur dann berücksichtigt werden, wenn der einschlägige rechtsgeschäftliche Wille der Parteien in der formgerechten Urkunde einen wenn auch nur unvollkommenen oder andeutungsweisen Ausdruck gefunden hat.[13] |
An solchen Andeutungen im Kaufvertrag, namentlich, dass auch das Flst. 277/22 Kaufgegenstand sein solle, fehlt es vorliegend. Dies legt nahe, „dass die Beklagte das als „Flst. 291/3“ bezeichnete Grundstück nur in dem Zuschnitt und Umfang verkaufen wollte wie aus dem Grundbuch und dem Liegenschaftskataster ersichtlich“.[14] Hierfür spricht auch die Üblichkeit, dass i.d.R. ein Grundstück genau ein Flurstück umfasst (s.o.).
c. Jedoch könnte ausnahmsweise die Anwendung der Andeutungsformel entfallen, „wenn das – von den Parteien in anderem Sinne verstandene – objektiv Erklärte, hier die [vermeintlich] versehentlich fehlerhafte Bezeichnung des Kaufgegenstands im Vertrag, dem Formerfordernis genügt. Beurkundet ist dann das wirklich Gewollte, nur falsch Bezeichnete.“[15] Gem. § 133 BGB könnte das zwischen den Vertragsparteien bestehende Rechtsverhältnis ebenso (sic!) zu beurteilen sein, wie wenn sie sich der ihrem Willen entsprechenden Bezeichnung (hier wohl: „Grundstück Flst. 291/3 und 277/22“) bedient hätten.[16] Dieser Grundsatz ist auch auf formgebundene Rechtsgeschäfte anzuwenden, insoweit die Formzwecke des § 311b Abs. 1 S. 1 BGB – u.a. Übereilungsschutz, Beratungsfunktion – gewahrt wurden.[17] Außerhalb der Urkunde liegende Umstände könnten sodann auch ohne Andeutung im Vertrag Berücksichtigung finden, wenn eine solche falsa demonstratio vorliegt.
#Definition Falsa demonstratio non nocet, § 133 BGB
„Bei einer falsa demonstratio[18] verstehen die Parteien das objektiv Erklärte anders, weil sie tatsächlich etwas anderes vereinbart haben und – irrtümlich – davon ausgehen, dies auch im Vertrag zum Ausdruck gebracht zu haben. Der Kaufgegenstand ist im Vertrag – wenn auch fehlerhaft – entsprechend der [inneren] Einigung der Parteien bezeichnet, so dass dem Formerfordernis Genüge getan ist“.[19] |
Der Annahme einer Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts, letztlich zum Schutze der Beteiligten (vgl. Formzwecke), bedarf es dann nicht, da die von den Parteien übereinstimmend verstandene Regelung im Zeitpunkt ihres Zustandekommens genau diesen schützenden Formerfordernissen unterlag.[20]
d. Die Vertragsparteien könnten in der Erklärung „Flst. 291/3“ Begriffe anders als nach dem Wortsinn verstanden oder mit Flst.- oder Grundbuchangaben andere, von den Angaben im Grundbuch und Liegenschaftskataster abweichende Vorstellungen über den verkauften Grundbesitz verbunden haben.[21]
aa. Grundsätzlich soll das Grundstück zwar nur in dem aus dem Grundbuch und dem Liegenschaftskataster ersichtlichen Zuschnitt und Umfang verkauft werden, wobei als bekannt vorausgesetzt wird, dass der Grenzverlauf in der Natur häufig nur ungenau abgebildet werden kann.[22]
bb. In engen Grenzen anerkannt sind jedoch solche Fälle, in denen erkennbar „mehr oder weniger“ verkauft werden sollte, als in der Vertragsurkunde benannt:
- Fälle, in denen die Parteien eines Grundstückskaufvertrags die Parzellenbezeichnung verwechseln oder vergessen, eine von mehreren verkauften Parzellen im notariellen Vertrag aufzuführen,[23]
- Wenn im Vertragstext als Kaufgegenstand irrtümlich das gesamte Grundstück genannt wird, obwohl nur eine bestimmte Teilfläche verkauft und übereignet werden soll,[24]
- Beim Verkauf einer Fläche, die zwar in dem notariellen Kaufvertrag versehentlich nicht bezeichnet war, aber nach den Umständen des Einzelfalls mitverkauft sein sollte.[25]
e. Derlei übereinstimmende Irrungen wurden vorliegend nicht schlüssig vorgetragen. Zudem kommt erschwerend hinzu, dass das hier begehrte zusätzliche „Flst. 277/22“ – ungeachtet seiner tatsächlich nur unscharfen selbstständigen Befriedung – im Eigentum eines Dritten stand; ein dahingehender Veräußerungswille des Veräußerers liegt i.a.R. fern.[26]
f. Zuletzt scheidet eine übereinstimmende (!) versehentliche Falschbezeichnung bereits mangels Einigung regelmäßig aus, „wenn die Parteien nicht einem beidseitigen Irrtum unterliegen, sondern der Verkäufer den tatsächlichen, von den natürlichen Gegebenheiten vor Ort abweichenden Grenzverlauf kennt und den Käufer hierüber nicht, wie geboten, aufklärt“.[27] Der Verkäufer irrt dann gerade nicht. Zwar kann er dem arglosen Käufer u.U. wegen Verschuldens bei Vertragsschluss zum Schadensersatz verpflichtet sein (etwa bei arglistiger Täuschung); ein auf das fremde Nachbargrundstück gerichteter Erfüllungsanspruch des Klägers scheidet jedoch aus.[28]
Eine falsa demonstratio hinsichtlich des fremden Nachbargrundstücks scheidet – bereits mangels ersichtlicher Einigung hinsichtlich diesem – aus. Der Inhalt der Einigung der Parteien umfasste demnach nur das auch im notariellen Kaufvertrag bezeichnete „Flst. 291/3“.
- Wirksamkeit der Einigung
Die Form der Einigung ist indes nicht zu beanstanden und wahrt insbesondere die Voraussetzungen des § 311b Abs. 1 S. 1 BGB.
Ein Kaufvertrag kam zwischen den Parteien nur bezogen auf das „Flst. 291/3“ zustande.
II. Ein Anspruch auf Rückabwicklung in diesem Sinne scheidet aus.
C. Die Klägerin könnte gegen die Beklagte zuletzt einen Anspruch auf Rückabwicklung wegen vorvertraglicher Pflichtverletzung (c.i.c.) haben, §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 1, 241 Abs. 2, 249 Abs. 1 S. 1 BGB. Dies setzt voraus, dass die Beklagte einen Irrtum der Klägerin über den Grenzverlauf und damit den Umfang des zu verkaufenden Grundstücks hervorgerufen oder einen solchen Irrtum erkannt, aber nicht berichtigt hat.
Ungeachtet der anspruchsbegründenden Umstände ist ein solcher Anspruch jedenfalls verjährt, §§ 196, 200 BGB (10 Jahre), mithin nicht mehr durchsetzbar.[29]
Dogmatische Vertiefung
„Wer hohe Türme bauen will, muß lange beim Fundament verweilen“.[30] Oder mit anderen Worten bezogen auf unsere Entscheidung: „Wer im AT pennt, der wacht im BT auch nicht mehr auf“. Der obige Grundstücksfall zeigt eindrücklich, dass die Falllösung nicht selten tief in den Grundlagen des Rechts verwurzelt ist, etwa in der sauberen Auslegung von Willenserklärungen anhand der bekannten Regeln (§§ 133, 157 BGB).
Merkblatt: Auslegung von Willenserklärungen
Willenserklärungen i.R.d. Vertragsschlusses sind – sofern problematisch – zunächst jede einzeln für sich genommen auszulegen und sodann zwecks Bestimmung der Übereinstimmung „übereinander zu legen“. Stimmen sie überein, kommt ein Vertrag nach §§ 145 ff. BGB zustande. Zunächst ist also zu erforschen, was der Erklärende a) gewollt hat und b) erklärt hat. è Stimmen Gewolltes und Erklärtes überein, kann mit der Prüfung des Vertragspartners fortgesetzt werden. è Besteht bereits hier keine Übereinstimmung, so ist zu prüfen, ob bei einer empfangsbedürftigen WE das Gewollte denn gleichwohl verstanden worden ist? a) Wenn „Ja“: Anwendung der Willenstheorie (§ 133 BGB, wonach „communis falsa demonstratio non nocet“ – der Grundsatz gilt nur für die gemeinsame Falschbezeichnung!) b) Wenn „Nein“: Anwendung der Erklärungstheorie (§ 157 BGB – Wie hat man es verstehen dürfen (im Falle empfangsbedürftiger WE: sog. objektiver Empfängerhorizont). Folgen eines Dissens: – Über essentialia: Kein Zustandekommen des Vertrages – Über accidentialia: §§ 154 ff. BGB (vgl. Fall des versteckten Dissens „Semilodei“ = § 155). Auslegung formbedürftiger Rechtsgeschäfte: wie oben plus außerhalb der Urkunde liegende Umstände unter den Einschränkungen der Andeutungsformel des BGH. |
– Zur Erinnerung: „Die Willenserklärung und ihre Tatbestandsmerkmale“ -[31]
Freilich beginnt hier erst Eure Examensklausur. Indem der Sachverhalt die Auslegung von Willenserklärungen – ein AT-Klassiker – in den Kontext eines Vertragsschlusses mit immobiliarsachenrechtlichem Einschlag stellt, bietet er alles, was eine anspruchsvolle Klausur braucht. Allem voran ermöglicht er eine Abwandlung im Bereich des Grundstücksrechts im weiten Sinne (Rechtsfragen des materiellen und formellen Grundstücksrechts, Grundpfandrechte, das Recht der Vormerkung, usw.). Grund (und Boden) genug, um sich in der Dogmatischen Vertiefung mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Mit dem folgenden Überblick über das examensrelevante Grundstücksrecht wollen wir Systemverständnis schaffen und Euch die Angst vor Themen wie der „forderungsentkleideten Hypothek“ oder dem „gutgläubigen Zweiterwerb der Vormerkung“ nehmen. Präzision in der Prüfung, Systemkenntnis und -verständnis sowie eine gedankenvolle Gesetzeslektüre sind bereits alle Zutaten, die es braucht, um zweistellige Examensergebnisse in Beton zu gießen und sich im Immobiliarsachen- und Grundstücksrecht wahrhaft zuhause zu fühlen. Zunächst einmal ein Überblick, wie sich der „Titel 1“ des Dritten Buchs des BGB (Sachenrecht) untergliedert: Für Eure Examensklausur relevant ist praktisch nur das „Materielle Grundstücksrecht“. Wer allerdings aus der Grundbuchordnung (GBO) nur eine Hand voll Normen in seinen Gedächtnispalast mit aufnimmt, der schwebt schon bald im Punktehimmel. Es existieren ein paar – zugegeben an den Haaren herbeigezogene – Eselsbrücken. Merkt Euch einfach die Ziffern 1, 3, 9; die Chancen stehen gut, dass entweder eine Auswahl und Kombination der Ziffern, oder aber irgendeine Norm mit einer „9“ Euch den Weg ins Glück verheißt. Sodann gilt es zu verstehen, wie die Übertragung des Eigentums an einem Grundstück von statten geht (dazu unten mehr).
Zuletzt gilt es nur noch das wohl beliebteste (Kombinations-)Thema der immobiliarsachenrechtlichen Klausur – die Vormerkung in Gestalt der Auflassungsvormerkung – durchstiegen zu haben. Die gute Nachricht: Die Kenntnis (und korrekte Lektüre und Anwendung) der Normen ist dabei i.d.R. bereits überdurchschnittlich zu bewerten. Die mittelgute Nachricht: Im Umgang mit dem crazy Rechtsinstitut der Vormerkung ist so einiges umstritten; zwar bedeutet das gleichzeitig, dass ihr auch alles vertreten könnt. Um die Kenntnis einiger Ansichten kommt man jedoch nicht umher – hier sei, um nicht den Rahmen zu sprengen, im Detail auf das Lehrbuch oder „Rep“ Eures Vertrauens verwiesen. Gleichwohl anbei eine Übersicht zum Nachvollziehen und an den Kühlschrank pinnen.
[32]
A. Die Übertragung des Eigentums am Grundstück
Die zentrale Vorschrift, wenn es um irgendeine (!) Änderung der Rechtsverhältnisse an einem Grundstück bzw. um irgendeine (!) Verfügung des Grundstücksrechts geht, ist der § 873 Abs. 1 BGB. Danach bedarf es in diesem Kontext stets (!) einer dinglichen Einigung und einer Eintragung der Rechtsänderung im Grundbuch. Speziell die dingliche Einigung bezüglich einer Übertragung des Eigentums nennt man „Auflassung“. Merke also: Egal, ob im Sachverhalt eine Grundschuld bestellt, Nießbrauch erteilt oder das Eigentum übertragen wird, der § 873 Abs. 1 BGB ist stets zu zitieren. Der § 925 Abs. 1 BGB hingegen wird nur im Rahmen einer Eigentumsübertragung virulent.
Hinweis: Auflassung, § 925 BGB
Die Bezeichnung der „Auflassung“ ist nicht zufällig gewählt: Ihren Ursprung hat sie im Gemeinen Recht (ab 1200 n.Chr.) noch vor Existenz eines Grundbuchs als Publizitätsträger (1897: Einführung der GBO). Im Zuge einer Grundstücksübertragung musste sich der Veräußerer nach außen für den Rechtsverkehr erkennbar von seinem Grundstück lossagen. Dies geschah durch sog. Renunziation (Verzicht, Besitzübertragung) auf dem Grundstück durch feierliches Verlassen desselben bei gleichzeitigem Auflassen von Tür und Tor. Savigny belebte die Auflassung 1840 mit seiner Lehre vom dinglichen Vertrag wieder und überführte sie in ihre heutige Form. |
B. Das Grundbuch
Das Grundbuch ist allem voran aus zweierlei Gründen Dreh- & Angelpunkt des Immobiliarsachenrechts. Zum einen wirkt es i.R.e. Verfügung nach § 873 Abs. 1 BGB als Publizitätsträger. Warum? Eine dem § 1006 Abs. 1 BGB (= Vermutung des Eigentums beim Besitzer) vergleichbare Regelung, welche ebenso auf den bloßen Besitz abstellt, ließe sich in Bezug auf Immobilien nur schwerlich handhaben (in ein Haus passen viele Besitzer). Eine Vermutungswirkung (sog. Öffentlicher Glaube) bietet jedoch gem. §§ 892 Abs. 1, 893 BGB die Eintragung im Grundbuch selbst; diese – gekoppelt mit der Richtigkeitsvermutung des § 891 BGB – eröffnet eine zugunsten der Bedürfnisse des Immobiliarsachenrechts modifizierte Anwendung der aus dem Fahrnissachenrecht aus den §§ 932 ff. BGB wohl bekannten Gutglaubenssystematik. Zum anderen gilt grundsätzlich ein absolutes Eintragungsprinzip: Die (Nicht-)Eintragung hat entscheidende Wirkung für den Bestand von dinglichen Rechten an Grundstücken. I.d.R. hat der Grundbucheintrag für die Entstehung solcher Rechte konstitutive Wirkung, d.h. ohne Eintrag kein dingliches Recht.[33]
C. Die wichtigsten Normen, das AWR und ein Ausblick auf die Vormerkung
Die wichtigsten Anspruchsgrundlagen des Grundstücksrechts finden sich in § 894 BGB (auf Zustimmung zur Grundbuchberichtigung) sowie in § 888 BGB (= Anspruch des Vormerkungsberechtigten auf Zustimmung). Die beiden Normen entsprechen sich in der Wirkungsweise. § 888 BGB ist jedoch aus zwei Gründen notwendig: Zum einen, weil das Grundbuch im Einzelfall durchaus objektiv richtig sein kann. Eine Verfügung über ein vormerkungsbelastetes Grundstück ist nämlich nur gegenüber dem Vormerkungsberechtigten relativ unwirksam; objektiv kann ein Erwerber sehr wohl Eigentümer werden, falls es für ein Eigentum des Vormerkungsberechtigten noch an einer entsprechenden Eintragung fehlt, da die Vormerkung keine Grundbuchsperre bewirkt.
Ansonsten stellt § 894 BGB dogmatisch lex specialis zu § 1004 BGB dar, indem es dem wahren Eigentümer ein Instrument zur Berichtigung der formellen Rechtslage anreicht. Der Eigentümer kann sich mit § 894 BGB dagegen wehren, dass sein Eigentum nicht oder unrichtig eingetragen ist oder dass fälschlicherweise ein Grundpfandrecht, eine Dienstbarkeit oder eine Vormerkung eingetragen wurde. Voraussetzung ist die Unrichtigkeit des Grundbuchs (I.) (= Widerspruch form. & mat. Rechtslage: Buchberechtigter ist ungleich dem materiell Berechtigten). Ferner muss der Anspruchssteller der Berechtigte sein (II.; er darf seine Berechtigung also insb. nicht an Dritte, etwa gutgläubig Erwerbende verloren haben). Zuletzt muss der Anspruchsgegner der Verplichtete sein (III.). Verpflichtet zur Abgabe dieser Erklärung ist der, dessen Mitwirkung nach der GBO notwendig ist, um die Änderung herbeizuführen (wg. § 19 GBO i.d.R. der zu Unrecht im Grundbuch Eingetragene, also der sog. Buchberechtigte). „Zustimmung zur Berichtigung“ meint indes die Abgabe der Eintragungsbewilligung i.S.d. § 19 GBO in der Form von §§ 28, 29 GBO.
Hinweis: Klausurtipp für die Vormerkungsklausur
Oft empfiehlt es sich, mit der Prüfung des § 894 zu beginnen, selbst wenn dieser inf. richtiger Grundbuchsituation ins Leere läuft: Dies bietet Euch zunächst einen ersten Einstieg in die Klausur. Weiter sieht der Prüfer – soweit ihr § 894 mangels Unrichtigkeit des GB ablehnt –, dass ihr bestens mit der Vormerkung und ihren (relativen) Rechtsfolgen vertraut seid. |
Ihr seht: Das Grundstücksrecht ist auch nur ein weiteres Teilgebiet. Mangelt es hier zwar i.d.R. an Prüfungsroutine, zahlt sich die Extrameile an Literaturlektüre umso mehr aus.[34]
[1] Zum Sachverhalt im Ganzen: BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942.
[2] LG Oldenburg (Vorinstanz) Urt. v. 25.11.2021 – 17 O 3971/20, BeckRS 2021, 62908 Rn. 5
[3] MüKoBGB/Stresemann, 9. Aufl. 2021, BGB § 90 Rn. 1.
[4] FYI: Die Gleichstellung einer fehlerhaften Montageanleitung (aufgrund welcher der Verbraucher das Produkt sodann fehlerhaft zusammenbaut) mit einem Mangel an der Sache selbst, welche § 434 Abs. 4 BGB heute näher konkretisiert, wurde ursprünglich 2002 in das BGB aufgenommen und seiner Zeit inoffiziell als „IKEA-Klausel“ bezeichnet.
[5] Solche besonderen Umstände wären z.B. eine in BGH, Urt. v. 16.03.1973 – V ZR 118/71 – NJW 1973, 1234 diskutierte arglistige Täuschung des Verkäufers hinsichtlich der Verhältnisse des Grundstücks.
[6] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 5, ebenso BGH, Urt. v. 11.11.2011 − V ZR 245/1 – NJW 2012, 846, Rn. 9.
[7] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 5.
[8] MüKoBGB/Spinner, 9. Aufl. 2023, § 611a BGB Rn. 87.
[9] FYI: Die Formulierung des § 323 Abs. 5 geht davon aus, dass der Gläubiger einer teilbaren Leistung bei Verzögerung eines Teils mit dem bewirkten (= erhaltenen) Teil grundsätzlich etwas anfangen kann. Als Regelfall stellt sich dem Gläubiger somit nur die Möglichkeit, vom „gestörten“ Vertragsteil zurückzutreten und so die Leistungspflichten zu verkürzen. Ausnahmsweise, im Falle mangelnden Beharrungsinteresses des Gläubigers am Vertrag, kann dieser vom ganzen Vertrag zurücktreten.
[10] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 13.
[11] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 14.
[12] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 15.
[13] So auch: BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 15 mit Verweis auf die st. Rspr. des BGH: BGHZ 63, 359 (362) = NJW 1975, 536; BGHZ 87, 150 (154) = NJW 1983, 1610; NJW-RR 2017, 712, Rn. 22.
[14] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 16.
[15] BGH, Urt. v. 18.01.2008 – V ZR 174/06, NJW 2008, 1658, Rn. 13.
[16] Vgl. BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 18 sowie RGZ, 99, 147 im „Haakjöringsköd-Fall.
[17] FYI: Der BGH überträgt diese Rechtsschutzgedanken der Formzwecke hinsichtlich des Grundstückskaufvertrages 1:1 auf die wirksame Begründung einer Beschaffenheitsvereinbarung in einem formbedürftigen Kaufvertrag, vgl. Rn. 19-22. „Daher führt eine Beschreibung von Eigenschaften eines Grundstücks oder Gebäudes durch den Verkäufer vor Vertragsschluss, die in der notariellen Urkunde keinen Niederschlag findet, in aller Regel nicht zu einer Beschaffenheitsvereinbarung, weil die Parteien nicht davon ausgehen können, dass im Vorfeld des Vertragsschlusses erteilte Informationen über das Grundstück oder über das auf diesem Grundstück stehende Gebäude zum Inhalt der vertraglichen Verpflichtungen werden, wenn diese nicht als geschuldete Beschaffenheit im Kaufvertrag erwähnt werden“.
[18] Besser, weil genauer: „communis falsa demonstratio non nocet“. Nur die gemeinschaftliche Falschbezeichnung ist unschädlich, die einseitige Falschbezeichnung führt zu einem Makel i.S.d. § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB.
[19] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 21.
[20] So auch BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 22.
[21] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 23.
[22] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 26.
[23] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 24.
[24] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 25.
[25] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 26; z.B. eine ganze Parkanlage.
[26] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 27.
[27] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 28.
[28] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 28 a.E.
[29] BGH, Urt. v. 23.06.2023 – V ZR 89/22, NJW 2023, 2942, Rn. 32-34.
[30] Anton Bruckner, österreichischer Komponist.
[31] Tipp: Zoomt gerne in die folgenden Schaubilder näher rein, Retina-Qualität versprochen.
[32] Abbildungen von C. Lederer, mehr unter „www.lederer.live“.
[33] FYI: Bemerkenswerter Unterschied zum meist als eingängiger wahrgenommenen Handelsregister.
[34] Verfasser: Christian Lederer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter HLB Schumacher Hallermann
Supervision: Dr. Lennart Brüggemann, Rechtsanwalt & Partner bei HLB Schumacher Hallermann
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