Entscheidung des Monats Juni 2022

„Ne bis in idem“ - Strafrecht

Hinweis vom HLB-Team: „Ne bis in idem“. Dieser lateinische Rechtsgrundsatz mag der einen oder dem anderen Filmenthusiasten – selbst ohne Latinum oder gar sechsjähriger juristischer Ausbildung – ein Stichwort sein, wenigstens hinsichtlich seiner Quintessenz. Hierzulande wohl besser bekannt unter dem Verbot der Doppelbestrafung bzw. dem Strafklageverbrauch verbietet dieses fundamentale Prinzip eines jeden fairen Strafprozesses im Grundsatz das zweimalige Aburteilen desselben Sachverhaltes. Diverse Hollywood-Klassiker, etwa „Das perfekte Verbrechen“ (2007), „Doppelmord“ (1999) oder „Reasonable Doubt“ (2014), haben sich dieser Thematik der Bevorzugung der formellen vor der materiellen Gerechtigkeit angenommen und zum juristischen Plot-twist erklärt. Freilich wurde dabei nicht immer sauber juristisch vorgegangen, weshalb sich zur Examensvorbereitung eher die Lektüre unserer „Entscheidung des Monats“ empfiehlt, als ein Thriller-Filmeabend (der natürlich im Nachgang).[1]

Statt im Kino-, wird sich den Fragen betreffend das Prozessrecht hierzulande im Gerichtssaal angenommen. So hat sich jüngst das Oberlandesgericht Hamm in einer Entscheidung (Az. 4 RVs 2/22) mit der Frage auseinandergesetzt, ob durch eine Verfahrenseinstellung der Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts gem. § 153 Abs. 1 S. 1 StPO ein Strafklageverbrauch eintritt. Gerade im Hinblick auf das zweite Staatsexamen lohnt sich ein vertiefender Blick in die strafprozessualen Verstrickungen des zugrundeliegenden Sachverhalts. Das Verbot der Doppelbestrafung stellt in Deutschland mit Art. 103 Abs. 3 GG eines der sog. Justizgrundrechte dar (Art. 19 IV, 101-104 GG) und ist als solches auch beliebter Prüfungsstoff der mündlichen Prüfung.[2]

In dem vorliegenden Fall urteilte das OLG weiterhin darüber, ob schon eine kurze Verzögerung der Hilfeleistung für eine Behinderung von Hilfeleistenden im Sinne von § 115 Abs. 3 StGB genügt. In dem Themenkomplex zu § 115 Abs. 3 StGB äußerte sich das Gericht zudem zu den Voraussetzungen eines zusätzlichen Fahrverbots nach § 44 StGB. Können solche auch als „Denkzettel“ verordnet werden?

Im Hinblick auf die Verfahrensgeschichte bietet es sich zudem an, die eingelegten Rechtsbehelfe zu begutachten. Aus diesem Grund geben wir Euch und Ihnen zum Schluss einen kurzen dogmatischen Überblick an die Hand.

 

Die Hintergründe der Entscheidung

Von Helmen, Hybris und Halteverboten: Die „Vision Zero“ im Straßenverkehr, namentlich die Anzahl an Unfällen, Verletzungen und Verkehrstoten auf null zu reduzieren, ist und bleibt wohl noch für längere Zeit Utopie. Menschliches Versagen und Fehlverhalten, sowohl der Unfallbeteiligten als auch von im Grunde unbeteiligten Dritten, bleiben nach wie vor Hauptursache der meisten Unglücksfälle. So auch in Ibbenbüren an einem milden Septembertag vor knapp drei Jahren: Eine Radfahrerin im Seniorenalter stürzte dem Anschein nach grundlos und zog sich dabei eine stark blutende Kopfverletzung zu. Ein Ersthelfer begab sich im weiteren Verlauf ohne zu zögern zu der gestürzten Radfahrerin und leistete erste Hilfe; er stellte sein Fahrzeug in diesem Zuge auf der rechten Fahrbahnseite ab. Weitere Helfer verständigten die Polizei und den Rettungsdienst.

Die zwei dazu gerufenen Polizeibeamten parkten beim Eintreffen den Streifenwagen diagonal gegenüber auf der Gegenfahrbahn. Eine ausreichend große Trasse zwischen den beiden abgestellten Fahrzeugen erlaubte den übrigen Verkehrsteilnehmern die Unfallstelle einspurig zu passieren. Selbstverständlich bildeten sich in beide Fahrtrichtungen kleine Rückstaus. In einem davon näherte sich der Angeklagte mit seinem PKW der Unfallstelle. Er fand schließlich das Fahrzeug des Ersthelfers auf seiner Fahrbahn stehend vor. Aus der Gegenrichtung näherte sich der herbeigerufene Rettungswagen mit Blaulicht und Signalhorn.

Der Angeklagte fuhr mit seinem Fahrzeug an den PKW des Ersthelfers heran und hielt mitten im einspurigen fließenden Verkehr neben diesem an. Er öffnete das Fahrerfenster und beschwerte sich über das am rechten Fahrbahnrand abgestellte Fahrzeug des Ersthelfers. Dabei äußerte er sinngemäß, dass der Unfallhelfer bekloppt sei, das Fahrzeug an dieser Stelle abzustellen. Es solle jemand das Fahrzeug wegfahren.

Durch das Anhalten bildete sich in alle Richtungen ein weiterer Rückstau. Dem eintreffenden Rettungswagen war hierdurch die Zufahrt zu der gestürzten Radfahrerin versperrt. Einer der beiden Polizeibeamten bat den Angeklagten, die Durchfahrt für den Rettungswagen frei zu machen und weiterzufahren. Der Angeklagte beschwerte sich weiter über die Situation und äußerte, dass das Verhalten typisch für die Polizei des Ortes sei. Er wurde nochmals aufgefordert, sein Fahrzeug an die Seite zu fahren, worauf der Angeklagte erneut nicht reagierte. Danach forderte auch die zweite Polizistin den Angeklagten auf, endgültig die Fahrbahn frei zu geben. Schließlich kam der Angeklagte dem nach und fuhr langsam an dem Fahrzeug des Ersthelfers vorbei. Dann hielt er hinter dem Fahrzeug des Ersthelfers an.

Wegen dieses Verhaltens musste der Rettungswagen in der Engstelle abbremsen und warten. Dabei war das Signalhorn ausgeschaltet, jedoch leuchtete das Blaulicht noch. Erst als der Angeklagte vollständig die Engstelle mit seinem Fahrzeug freigab, konnte der Rettungswagen anfahren. Allerdings musste er sofort wieder anhalten, da der Angeklagte nach dem Abstellen des Fahrzeugs die Fahrertür öffnete, um auszusteigen. Daher schaltete der Fahrer des Rettungswagens das Signalhorn an, um zu signalisieren, dass er freie Fahrt benötige. Der Angeklagte schloss daraufhin die Fahrertür.

Der Angeklagte fuhr nach den Vorgängen an der Unfallstelle zur Polizeiwache und erstatte dort Anzeige gegen den Polizeibeamten, der ihn an der Unfallstelle zur Weiterfahrt aufforderte. Er behauptete bewusst wahrheitswidrig, dass dieser ihn als „Blödmann“ und „Idiot“ bezeichnet habe.

Die Staatsanwaltschaft leitete in der Folge ein Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung, Beleidigung und Nötigung ein. Dabei war bekannt, dass der Angeklagte auf der Höhe der Unfallstelle mit seinem Fahrzeug stehen blieb, trotz mehrfacher Aufforderung durch die Polizei nicht weiterfuhr und hierdurch die Ankunft des Rettungswagens verzögert wurde. Nicht bekannt war zu diesem Zeitpunkt, wie lange die Weiterfahrt des Rettungswagens verzögert wurde. Zunächst wurden keine Zeugen vernommen. Mit Zustimmung des zuständigen Amtsgerichts stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Angeklagten gem. § 153 Abs. 1 S. 1 StPO ein und begründete dies damit, dass der Angeklagte nicht vorbestraft sei, keine Gewalt angewendet habe und durch das Ermittlungsverfahren schon hinreichend beeindruckt worden sei.

Allerdings leitete die Staatsanwaltschaft aufgrund der Anzeige des Angeklagten auch ein Ermittlungsverfahren gegen den Polizeibeamten wegen Beleidigung ein. Hierzu wurden zahlreiche Zeugen vernommen und das Verfahren schließlich gem. § 170 Abs. 2 S. 1 StPO eingestellt.

Aufgrund der Erkenntnisse aus dem Verfahren gegen den Polizeibeamten nahm die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Angeklagten wieder auf und begründete dies damit, dass sich jetzt ein hinreichender Tatverdacht für eine Straftat nach § 115 Abs. 3 StGB durch die Behinderung des Rettungswagens ergebe. Außerdem bestehe ein hinreichender Tatverdacht wegen falscher Verdächtigung gem. § 164 Abs. 1 StGB zu Lasten des Polizeibeamten. Die Einstellung sei aufgrund der neuen Erkenntnisse nicht mehr sachgerecht.

Die Staatsanwaltschaft erhob deshalb beim zuständigen Amtsgericht Anklage wegen §§ 115 Abs. 3, 164 Abs. 1, 185 StGB. Das Amtsgericht eröffnete zwar das Verfahren gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfs der falschen Verdächtigung, im Übrigen lehnte es eine Eröffnung jedoch ab. Zur Begründung der Teilablehnung führte es u.a. an, dass Strafklageverbrauch eingetreten sei, da im Rahmen der Einstellung gem. § 153 Abs. 1 S. 1 StPO eine gerichtliche Prüfung des Akteninhalts stattgefunden habe. Der hiergegen gerichteten sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft gab das zuständige Landgericht statt. Es ließ die Anklage auch hinsichtlich des bis dahin nicht eröffneten Teils der Anklage vor dem Amtsgericht mit der Begründung zu, dass eine staatsanwaltliche Verfahrenseinstellung mit Zustimmung des Gerichts keinen Strafklageverbrauch entfalte, im Übrigen ein sachlicher Grund für die Wiederaufnahme des Verfahrens vorliege. Dieser Auffassung folgte auch das Amtsgericht und verurteilte den Angeklagten wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, in Tatmehrheit mit Beleidigung und in Tatmehrheit mit falscher Verdächtigung zu einer Geldstrafe in Höhe von 110 Tagessätzen und zu einem viermonatigen Fahrverbot. Gegen das Urteil legte der Angeklagte Sprungrevision vor dem OLG Hamm ein.

 

Die Entscheidung

Bei der Revision überprüft das Revisionsgericht die angefochtene Entscheidung nur noch darauf, ob dieses Rechtsfehler enthält und ob das Urteil auf einem solchen Rechtsfehler beruht, also ob das Urteil ohne den Rechtsfehler anders ausgefallen wäre. Dabei kommt in Betracht, dass das angefochtene Urteil von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensfehler, wie z.B. Verjährung, Fehlen eines erforderlichen Strafantrags, nicht beachtet hat, dass die verfahrensrechtlichen Bestimmungen zum Ablauf des Strafverfahrens nicht eingehalten wurden oder dass das materielle Recht nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.

 I.   Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensfehler

Im Rahmen der von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensfehlern ging das OLG Hamm zunächst auf die Rüge der Verteidigung ein, ob durch die Einstellung der Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts gem. § 153 Abs. 1 S. 1 StPO ein Strafklageverbrauch eingetreten ist.

Nach Auffassung des OLG Hamm ist diese Frage der Revision gem. § 336 S. 2 StPO entzogen, da die Entscheidung des Landgerichts über die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, mit der das Hauptverfahren eröffnet wurde, unanfechtbar ist. Mit dem Eröffnungsbeschluss werde darüber entschieden, ob Prozesshindernisse wie etwa ein Strafklageverbrauch vorliegen oder nicht.

Im Wege eines obiter dictum[3] stellte das OLG Hamm jedoch klar, dass ein Strafklageverbrauch durch die Einstellung gem. § 153 Abs. 1 S. 1 StPO nicht vorliegt. Nach Art. 103 Abs. 3 GG darf niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden. Dabei ist es nicht erforderlich, dass der Täter zuvor im eigentlichen Sinne „bestraft“ wird. Auch ein Freispruch durch das Gericht erzeugt eine Sperrwirkung, sodass der Täter grundsätzlich nicht nochmals wegen dieser Tat angeklagt werden darf. Maßgeblicher Gesichtspunkt für das Auslösen der Sperrwirkung ist, ob durch die Entscheidung ein Mindestmaß an sachlicher Klärung hinsichtlich des staatlichen Strafanspruchs durch das Gericht erfolgt ist.[4]

Durch die Zustimmung des Gerichts zur Einstellung nach § 153 Abs. 1 S. 1 StPO soll lediglich die von der Staatsanwaltschaft befürwortete Ausnahme vom Legalitätsprinzip[5] mitgetragen werden. Solche Entscheidungen werden in der Praxis erfahrungsgemäß in einem frühen Verfahrensstadium getroffen, in dem der Sachverhalt oftmals noch nicht abschließend geklärt ist. Aus diesem Grund ruft die Einstellung auch keinen Vertrauensschutz hervor, der eine Wiederaufnahme des Verfahrens ausschließt.

  II. Sachrüge

Bei der Sachrüge wird das angefochtene Urteil darauf überprüft, ob der festgestellte Sachverhalt lückenhaft, widersprüchlich oder unklar ist oder gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (Darstellungsrüge), ob Strafvorschriften nicht oder nicht richtig angewendet worden sind und ob die Strafzumessung den gesetzlichen Anforderungen entspricht.

1.      Verurteilung wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen

Das OLG Hamm überprüfte, ob sich der Angeklagte wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, strafbar gemacht hat, indem er mit seinem Fahrzeug die Engstelle zwischen den abgestellten Fahrzeugen blockierte und nach der Weiterfahrt das Fahrzeug erneut abstellte und die Autotür öffnete.

Ein Unglücksfall lag durch die Verletzungen am Kopf der Radfahrerin, die stark bluteten und notärztlich versorgt werden mussten, vor, da dies ein plötzliches Ereignis ist, das erheblichen Schaden an Menschen oder Sachen verursacht oder weiteren Schaden zu verursachen droht.

Bereits das Hinbewegen des hilfeleistenden Rettungsdienstes zum Ort der Gefahr ist Teil der Hilfeleistung, sodass die Personen des Rettungsdienstes als Hilfeleistende im Sinne der Vorschrift anzusehen sind.

Der Angeklagte müsste die Personen des Rettungsdienstes durch Gewalt behindert haben. Dabei stellte das OLG Hamm zunächst klar, dass ein Behindern das Erschweren des Hilfeleistens in jeder Form ist. Der Gewaltbegriff in § 115 Abs. 3 StGB entspricht dem der §§ 113, 240 StGB. Es genügt die Gewalt gegen Sachen, wenn sie sich mittelbar physisch auf die Person des Genötigten auswirkt, dieser also einem körperlich vermittelten Zwang unterliegt. Gewalt liegt zudem schon dann vor, wenn nur der Weg zum Unfallort versperrt wird oder wenn die Hilfeleistenden einen nicht unerheblichen Umweg nehmen müssen. Der Angeklagte blockierte mit seinem Fahrzeug den Engpass zwischen den bereits abgestellten Fahrzeugen und öffnete die Autotür, sodass die Weiterfahrt des Rettungswagens zum Unglücksort verhindert wurde. § 115 Abs. 3 StGB setzt keine endgültige oder auch zeitweise gänzliche Verhinderung der Hilfeleistung voraus. Demnach ist es unerheblich, dass der Angeklagte den Rettungsweg letztlich doch noch frei machte. Es genügt eine nicht ganz unerhebliche Beschwernis, die gerade auf den spezifischen Wirkungen des eingesetzten Tatmittels zurückzuführen ist. Bei einem schwerwiegenden Verkehrsunfall können bereits denkbar geringfügige Verzögerungen von Rettungsmaßnahmen um nur wenige Sekunden schwerwiegende Folgen bis hin zum Tod des Opfers nach sich ziehen. Daher kam das OLG Hamm zu der Entscheidung, dass bereits die einminütige Verzögerung genügt, um von einer tatbestandsmäßigen Behinderung zu sprechen.

Der Angeklagte erkannte die Möglichkeit einer Behinderung der Rettungskräfte und nahm diese billigend in Kauf.

2.      Fahrverbot nach § 44 StGB

Weiter beschäftigte sich das OLG Hamm damit, ob das Amtsgericht dem Angeklagten neben einer Geldstrafe ein viermonatiges Fahrverbot gem. § 44 StGB erteilen durfte. Ein Fahrverbot kann gem. § 44 Abs. 1 StGB erteilt werden, wenn jemand wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe oder Geldstrafe verurteilt wird.

Nach den Ausführungen des OLG Hamms soll das Fahrverbot dem nachlässigen oder rücksichtslosen Fahrer die Möglichkeit geben, sich auf die Gefahren im Straßenverkehr zu besinnen und damit auch auf die Notwendigkeit, dessen Regeln zu beachten. Diese Besinnungsfunktion kann das Fahrverbot in der Regel aber nur erfüllen, wenn es sich in einem angemessenen zeitlichen Abstand zur Tat auf den Täter auswirkt. Vergeht zu viel Zeit, verliert der spezialpräventive und aufrüttelnde Zweck des Fahrverbots seine Wirkung und reduziert sich auf eine bloße Strafe. Zudem kann in einem solchen Fall der spezialpräventive Zweck der Maßnahme bereits durch die lange Zeit des Schwebezustandes und die für den Angeklagten damit verbundene Ungewissheit über das Fahrverbot erreicht sein. Die Rechtsprechung hat sich insoweit einer Grenze von zwei Jahren zwischen der Tatzeit und der Aburteilung angenähert, wenn die lange Verfahrensdauer nicht vom Angeklagten zu vertreten war und er seit der Tat nicht erneut straßenverkehrsrechtlich auffällig geworden ist. Die Frage, ob bzw. ab wann von einem erheblichen Zeitraum zwischen der Tat und ihrer Ahndung durch ein Fahrverbot auszugehen ist, lässt sich aber nicht anhand bestimmter bzw. starrer Regelgrenzen beantworten, sondern ist im Einzelfall unter Abwägung aller relevanten Umstände zu entscheiden.

Im vorliegenden Fall fehlen zwischen der Tat und dem erstinstanzlichen Urteil nur wenige Tage für einen Zeitraum von zwei Jahren.

Der Angeklagte nutzte sein Fahrzeug im Straßenverkehr, um Rettungssanitätern die Zufahrt zu einer schwer verletzten Person zu blockieren. Die Geltung von Regeln zum Schutz für Leben und Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer überwiegen deutlich dem Interesse an einem flüssigen und schnellen Vorankommen im Straßenverkehr. Damit missbrauchte er sein Fahrzeug in schwerwiegender Weise, weshalb es nach Auffassung des OLG Hamms unzweifelhaft noch der Warnungs- und Besinnungsstrafe des § 44 StGB bedürfe. Auf den Zeitraum zwischen der Tat und der Aburteilung kommt es deshalb nicht mehr an.

 

Dogmatische Vertiefung

Bei der bereits aufgezeigten Verfahrensgeschichte bietet es sich an, die Zulässigkeit der eingelegten Rechtsbehelfe zu beleuchten. Während die Zulässigkeit der Sprungrevision im Hinblick auf die strafrechtliche Revisionsklausur keine Probleme bereiten darf, ist die sofortige Beschwerde gegen den Nichteröffnungsbeschluss eine Sonderkonstellation. Diese Konstellation könnte beispielsweise im Zweiten Staatsexamen in einen Aktenvortrag eingebaut werden.

1.      Sofortige Beschwerde

Auf die Anklageschrift eröffnete das Amtsgericht das Verfahren zunächst nur wegen der falschen Verdächtigung gem. § 164 Abs. 1 StGB. Wegen der anderen beiden Delikte ging das Amtsgericht von einem Strafklageverbrauch wegen der Einstellung gem. § 153 Abs. 1 S. 1 StPO aus und lehnte daher die Eröffnung des Hauptverfahrens ab.[6]

Gegen den Beschluss, durch den die Eröffnung des Verfahrens abgelehnt wurde, ist gem. § 210 Abs. 2 StPO die sofortige Beschwerde statthaft. Diese ist auch bei einer Teilablehnung statthaft. Der Beschluss ist dann nur insoweit beschwerdefähig, als die Eröffnung abgelehnt wurde.

Die Staatsanwaltschaft ist zur Einlegung eines Rechtsmittels gegen den Nichteröffnungsbeschluss gem. § 296 Abs. 1 StPO berechtigt.

Die Staatsanwaltschaft kann sowohl zu Gunsten als auch zu Ungunsten des Beschuldigten Rechtsmittel einlegen. Daher ist sie stets beschwert, wenn sie geltend macht, dass die ergangene Entscheidung unrichtig sei.

Die sofortige Beschwerde kann gem. § 306 Abs. 1 StPO schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden. Sie ist gem. § 311 Abs. 2 StPO binnen einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung einzulegen. Die Bekanntgabe des Nichteröffnungsbeschlusses erfolgt gem. § 35 Abs. 2 S. 1 StPO durch Zustellung.

Zuständig für die sofortige Beschwerde ist gem. §§ 311 Abs. 3 StPO das Beschwerdegericht. Welches Gericht das Beschwerdegericht ist, ergibt sich aber nicht aus der StPO, sondern aus dem GVG. Nach § 73 Abs. 1 GVG entscheiden über Beschwerden gegen Entscheidungen des Richters beim Amtsgericht die Strafkammern beim Landgericht.

2.      Sprungrevision

Gegen das Urteil des Amtsgerichts legte der Angeklagte Rechtsmittel ein. Hierüber entschied das OLG Hamm im Rahmen einer Sprungrevision.

Gem. § 335 Abs. 1 StPO kann ein Urteil, gegen das Berufung zulässig ist, statt mit Berufung mit Revision angefochten werden.[7] Dies nennt man Sprungrevision. Die Berufung ist gem. § 312 StPO gegen Urteile des Strafrichters und des Schöffengerichts zulässig. Vorliegend lag ein Urteil des Strafrichters vor, sodass die Sprungrevision statthaft war.

Der Angeklagte ist gem. § 296 Abs. 1 StPO zur Einlegung eines Rechtsmittels berechtigt. Gem. § 297 StPO kann auch der Verteidiger für den Angeklagten Rechtsmittel einlegen.

Durch die Verurteilung des Angeklagten zu einer Geldstrafe ist dieser durch das Urteil beschwert.

Die Revision muss gem. § 341 Abs. 1 StPO bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, binnen einer Woche nach Verkündung des Urteils zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingelegt werden. Dabei berechnet sich die Frist gem. § 43 Abs. 1 StPO.

Gem. § 344 Abs. 1 StPO ist eine Erklärung abzugeben, inwieweit das Urteil angefochten und dessen Aufhebung beantragt wird (Revisionsanträge) und diese Anträge sind zu begründen. Die Begründung muss aber noch nicht mit der Erklärung, dass Revision eingelegt wird, erfolgen. Dies erfolgt typischerweise in zwei gesonderten Schriftsätzen. Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind gem. § 345 Abs. 1 StPO binnen eines Monats nach Ablauf der Revisionseinlegungsfrist bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. Jedoch beginnt die Monatsfrist noch nicht, wenn das Urteil zum Zeitpunkt des Ablaufs der Revisionseinlegungsfrist noch nicht zugestellt ist. Dann beginnt gem. § 345 Abs. 1 S. 3 StPO die Frist erst mit der Zustellung des Urteils zu laufen. Dies ist in der Praxis der Regelfall, sodass es für die konkrete Fristberechnung meist auf die Zustellung des Urteils ankommt.

Der Angeklagte darf keinen Rechtsmittelverzicht erklärt oder ein eingelegtes Rechtsmittel zurückgenommen haben. Andernfalls ist die Revision unzulässig.

Die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts ergibt sich aus § 335 Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 121 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) GVG.[8]

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[1] Fyi: Absolut gilt das Verbot der Doppelbestrafung übrigens nur in Indien und Mexiko. Deutschland, wie auch die USA und viele weitere Staaten, schufen gesetzliche Vorkehrungen, die der materiellen Gerechtigkeit unter bestimmten (strengen) Voraussetzungen den Vorrang geben. So kann ein nachträgliches Geständnis des Täters eine erneute Anklage rechtfertigen (vgl. § 362 StPO). Ungenügend ist das schlichte Aufkommen neuer Beweismittelmethoden (wie zum Beispiel der DNA-Analytik Ende der 90er); hier überwiegt das rechtsstaatliche Gebot der Rechtssicherheit die Aussagekraft der neuen Beweismittel bei einem einst von einem Verbrechen freigesprochenen Schuldigen, dessen DNA-Spuren später doch noch nachgewiesen wurden (Lesehinweis: Fall Butzelar).

[2] Fyi: Systematisch betrachtet stellen die Prozess- oder auch Justizgrundrechte in den Art. 101 – 104 GG tatsächlich keine Grundrechte per se, sondern sog. grundrechtsgleiche Rechte dar. Dies erschließt sich aus ihrer Verortung im Grundgesetz weit hinter dem Grundrechtskatalog.

[3] Fyi: Obiter dictum (lat.) meint eine in der Entscheidung eines Gerichtes geäußerte Rechtsansicht, die nicht die gefällte Entscheidung trägt, sondern nur geäußert wurde, weil sich die Gelegenheit dazu bot („nebenbei gesagt“). Den Gegensatz zum obiter dictum bildet die ratio decidendi (die rechtliche Entscheidungsbegründung).

[4] Jansen/Hoppen, JuS 2021, 1132 (1134).

[5] Fyi: Nach dem Legalitätsprinzip aus §§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 1 StPO ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, bei dem Anfangsverdacht einer Straftat Ermittlungen aufzunehmen und wenn die Ermittlungen einen hinreichenden Tatverdacht ergeben, Anklage gegen den Beschuldigten zu erheben.

[6] Fyi: Zum Verständnis ein kurzer Überblick über den Ablauf eines Strafverfahrens. Haben die Strafverfolgungsbehörden den Anfangsverdacht, dass eine Straftat begangen worden ist, leiten sie ein Ermittlungsverfahren ein. Der Verdächtige heißt in diesem Verfahrensstadium „Beschuldigter“. Ergibt sich für die Staatsanwaltschaft aus den Ermittlungen ein hinreichender Tatverdacht, erhebt sie die Anklage, wodurch das Ermittlungsverfahren endet. Der Beschuldigte wird hierdurch zum „Angeschuldigten“. Es beginnt das Zwischenverfahren, in dem das Gericht darüber entscheidet, ob sich den Ermittlungsmaßnahmen ein hinreichender Tatverdacht entnehmen lässt. Dies dient dem Schutz des Angeschuldigten vor ungerechtfertigten Anklagen. Bejaht das Gericht den hinreichenden Tatverdacht, erlässt es den Eröffnungsbeschluss. Damit endet das Zwischenverfahren. Es beginnt das Hauptverfahren, zu dem auch die bekannte Hauptverhandlung gehört. Ab dem Beschluss über die Eröffnung wird der Angeschuldigte zum „Angeklagten“.

[7] Der Unterschied zwischen Berufung und Revision liegt im Strafrecht darin, dass bei der Berufung der Fall neu verhandelt wird, also auch neue Beweisanträge und neue Zeugen gehört werden können. Bei der Revision wird dagegen durch das Revisionsgericht nur überprüft, ob das angefochtene Urteil gegen Rechtsvorschriften verstößt und das Urteil auf dieser Rechtsverletzung beruht. Eine Beweisaufnahme findet daher nicht nochmal statt.

[8]

Verfasser:        Joshua Geise, Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei HLB Schumacher Hallermann.

Supervision:     Dr. Lennart Brüggemann, Rechtsanwalt bei HLB Schumacher Hallermann,

Christian Lederer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei HLB Schumacher Hallermann.

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